© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

"Findest du das okay?"
Erziehungsratgeber haben Konjunktur: Immer mehr Eltern mangelt es an eigenem pädagogischen Instinkt
Ellen Kositza

Es ist eine Beigabe unseres Zeitalters des grenzenlosen Individualismus, des kunterbunten Meinungsmarktes, daß Kindererziehung - ebensowenig wie das Zeugen und Gebären an sich - längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

Die "Supernanny" fährt für RTL grandiose Einschaltquoten ein, Erziehungsratgeber wie die in dutzendfacher Titelvielfalt ("Kinder brauchen Grenzen", "Eltern setzen Grenzen", "Ängste machen Kinder stark") herausgegebenen, vielfach übersetzten Bücher des populären "Kommunikationsberaters" Jan-Uwe Rogge sind Bestseller, an denen die Autoren reich geworden sind. Viel mehr als die Gewißheit, mit den einschlägigen Sorgen und Nöten rund um den Nachwuchs nicht allein zu sein, bieten derartige Werke allerdings selten.

Wie groß der Mangel sowohl an tradiertem Erziehungsverständnis als auch an eigenem pädagogischen Instinkt sein muß, zeigt, daß ein Buch wie "Kindern Werte geben - aber wie?" vom herausgebenden Reinhardt-Verlag als marktfähig eingestuft wird. Gerda Pighins "Leitfaden für eine moderne Werteerziehung" erschöpft sich in oberflächlichen, ja trivialsten Tips, daß es spielend das Niveau jeder noch so banalen Elternzeitschrift unterläuft. Daß heutige Eltern ihrem Nachwuchs auch die althergebrachten "Sekundärtugenden" wie Höflichkeit, Fleiß und Sparsamkeit "mitgeben" wollen, zählt ebenso zu Frau Pighins Grundannahmen wie die unwiderlegte Gewißheit, daß deren Töchter und Söhne die Rede der Altvorderen für "uncool und altmodisch" halten. Eine demokratische Familienatmosphäre, im Rahmen deren Groß und Klein zusammensitzen und gemeinsam über ihre Probleme reden, so der Ratschlag der Autorin, könnte hier weiterhelfen, denn: "Rücksichtnahme macht Sinn".

Anhand gängiger Fallbeispiele präsentiert Pighin handliche Lösungen. So wäre demnach etwa dem kleinen Sandkasten-Rowdy zu begegnen: "Findest du das okay, wenn du den Manuel immer schubst? Ich gehe davon aus, daß das jetzt aufhört!" Dem eiligen Leser werden durch ein neckisches Strichmännlein knappe Erziehungshilfen in grau unterlegten Kästchen dargeboten, etwa: "Sich entschuldigen zu können, ist eine wichtige Voraussetzung für ein friedliches und friedfertiges Miteinander." Oder: "Fühlt sich ein Baby in der Krabbelgruppe nicht wohl, kann man es getrost herausnehmen und noch einige Zeit warten."

Was kann denn die Punkerin für ihr Aussehen?

Nicht ganz so harm- und sinnlos, doch inhaltlich um so fragwürdiger stellt sich Karl E. Dambachs schmales Praxisbuch "Zivilcourage lernen in der Schule" dar, das der Reinhardt-Verlag nun in gleicher Reihe ("Kinder sind Kinder") veröffentlicht hat. Mobbing und Bullying - eine Übersetzung oder Unterscheidung der Phänomene bleibt der Autor schuldig - seien in Schulklassen alltäglich. Intolerantem Verhalten will der Lehrer und Seminarleiter Dambach durch Übungen begegnen, in denen Schüler "Gefühle ausdrücken und wahrnehmen" lernen, etwa durch sogenannte "Life-Skills-Programme" und Talk-show-Imitationen.

Auch wird die Erstellung eines "Fotoromans" (in Anlehnung an ähnliche Formate in Jugendzeitschriften wie der Bravo) als beispielhaft vorgeführt: Punkermädchen Karin beginnt ein Gespräch mit der Blondine Nora, letztere bietet zum Schein ein Bonbon an und läßt es demonstrativ zu Boden fallen. Diskussionsangebot an die Klasse: Was kann denn die ausgegrenzte Punkerin für ihr Aussehen? Auch die anderen Arbeitsvorschläge sind vielsagend: Max von der Grüns Text "Der Fremde" lesen und ausdiskutieren, anhand eines Zeitungsartikels über eine fragwürdige Brüskierung Paul Spiegels "eingreifen lernen". Was auch immer der Leser von den hier zugrundegelegten Annahmen einer Mehrheits- und Minderheitsmeinung halten mag: Hier dominiert die vordergründige Symptomkur, wo eine ganzheitliche Betrachtung von jugendlicher Aggression und Gruppenzwang wünschenswert wäre.

Vorbildlich wird eine solche präsentiert durch das Buch mit dem leider etwas albernen Titel "Kleine Jungs - große Not" des Kinder- und Familienpsychologen Wolfgang Bergmann. Instant-Tips für die gebrauchsfertige Anwendung sucht man hier vergeblich, ohne jedoch mit der unbefriedigenden Pauschalberuhigung einer rein entwicklungsbedingten und vorübergehenden Phase abgefunden zu werden. Nein, Bergmanns Diagnosen sind zutiefst beunruhigend. Er kennt die kleinen Schläger, die Zappelphilipps und die Computerkinder. Zugrunde liege diesen durchaus gängigen Verhaltensweisen eine "Egozentrik ohne Ego", die bis in die späte Jugend (und womöglich ins Mannesalter hinein) "infantile Allmachtsbilder gegen die Zumutungen der Realität" zu verteidigen suche.

Nachdrücklich skizziert der Autor die durch Mangel geprägten Lebenswelten, die nicht nur auffällig gewordene Störenfriede umgeben, sondern zum Paradigma einer ganzen Generation geworden sind. Da ist zum einen die moderne Familie, die häufig als "unzuverlässige Befindlichkeitsgemeinschaft" erlebt wird und oft nicht mehr als eine "bindungslose Verwöhnung" zu liefern imstande ist. Die heutige Familie erlebt der Psychologe als "hochgradig gefährdet": Durch das Fehlen einer verbindenden und verbindlichen ökonomischen Basis sei sie zu einem "sentimentalen Gefühlsrelikt" verkommen. Auch die Kindererziehung an sich kennzeichnet heute nicht mehr die Fortsetzung elterlicher Gewohnheiten, sondern meist einen Bruch mit denselben. Familiäre Bindungen sind heute spielend zu unterlaufen, dazu paßt die Ersetzung des für Bergmann immanent wichtigen Begriffs "Bindung" durch die "Beziehung", einen mechanistischen terminus technicus aus der Handelssprache. Die Einebnung der Geschlechtsunterschiede und die damit einhergehenden Schwundstufen von Väter- und Mütterlichkeit tun dazu ein übriges.

"Weich und widerstandslos" verläuft häufig zusätzlich zur familiären auch die außerfamiliäre Sozialisation, gerade die schulische: "Es gibt keine Könige in den deutschen Schulen, sondern lauter Diener", hält Bergmann mit Blick auf das Gros der Lehrerschaft fest; Diener, die sich "vor der anonymen Moral und den ministeriellen Lehrplänen" ducken. Bergmann nennt diesen Zustand ein "entpersonalisiertes Desaster": Das kalte Zauberwort der "pädagogischen Maßnahme", aus dem wohlwollenden Milieu der siebziger Jahre entsprungen, sei dabei nicht in der Lage, die Realität moderner Jungen auch nur zu berühren. Nicht Absichten und Überzeugungen der Erzieher helfen Kindern auf der Suche nach Anhaltspunkten für ihre Identität weiter, sondern allein authentische Autorität. Den Terminus der "guten Autorität" hat Bergmann schon in früheren Büchern (etwa: "Nur Eltern können wirklich helfen") eingeführt - gemeint ist ein Erzieher, der sich "fordernd, beanspruchend und unumgänglich" zeigt und dies durch seine eigene Persönlichkeit zu beglaubigen in der Lage ist: ein Vater - im besten Falle -, auf den "im Ernstfall Verlaß ist".

Männliche Eigenschaften geraten in Vergessenheit

Ein weiteres Problemfeld erkennt der Autor in dem für heutige Heranwachsende selbstverständlichen Umgang mit den neuen Medien. Computerkrüppel, exzessive Mobiltelefonierer, wochenendfüllende "LAN-Parties" - darüber haben schon viele Experten geschrieben. Eine derart umfassende Analyse wie die von Bergmann fehlte bislang. Nachdrücklich - und, das ist wichtig, stets einfühlsam, voller Empathie - erläutert der Psychologe das Flüchtige dieser virtuellen Kommunikation. Das Abhandenkommen einer materiellen Dimension greife auf das Weltverstehen der Jugendlichen über: "Den ganzen Tag kommunizieren bedeutet auch, daß viele alte männliche Eigenschaften in Vergessenheit geraten", hebt Bergmann hervor. Neben der Mode einer schnellen, reibungsarmen und weitgehend konsequenzlosen Kommunikation per Mail oder SMS wachse die Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt: radikal, hart und widerstandsfähig. Durch Aggressionen und Unkonzentriertheit kanalisiere sich dieses ungestillte Bedürfnis.

Bergmanns Buch lädt weder zum angelegentlichen Schmökern noch zum gezielten Nachschlagen ein. Es verdient, gründlich und mit höchster Aufmerksamkeit gelesen zu werden. Dann erweist es sich als wahre Schatzkiste: Hier ist ein Buch, das in jede Familienbibliothek gehört.

 

Wolfgang Bergmann: Kleine Jungs - große Not. Wie wir ihnen Halt geben. Patmos, Düsseldorf, Zürich 2005, 179 Seiten

Karl E. Dambach: Zivilcourage lernen in der Schule. Ernst Reinhardt Verlag, München, Basel 2005, 109 Seiten

Gerda Pighin: Kindern Werte geben - aber wie? Ernst Reinhardt Verlag, München, Basel 2005, 105 Seiten

 

Ellen Kositza, 31, hat als Lehrerin gearbeitet und ist Mutter von fünf Kindern.


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