© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Des Letzten beraubt
Als Flüchtling in Niedersachsen
Fritjof Berg

Unsere Flucht aus Königsberg Ende Januar 1945 hatte meine Mutter mit uns fünf Kindern, ihrer Mutter und Kindermädchen Marta auf das Einzelgehöft Sirachsberg bei Bevensen im Kreis Uelzen verschlagen.

Gegen Ende April machte noch ein deutscher Wehrmachtsstab auf unserem Hof Quartier. Bei seinem Abrücken erklärte ein Offizier: "Hinter uns kommt nur noch der Feind." Die erlebte Brutalität der Feinde im Osten wie im Westen gegenüber der wehrlosen deutschen Bevölkerung ließ nur noch den würdigen Gedanken, tiefste Niedergeschlagenheit zu: Was soll dann bloß aus Deutschland und unserem Volk werden, so konnte doch nicht das Ende alles Kämpfens und Leidens aussehen! Von niemandem habe ich damals das Wort von der damit einhergehenden "Befreiung" vernommen.

Dann war es soweit. Aus dem Waldstück, durch das ein Waldweg zur nahe gelegenen Chaussee Bevensen-Römstedt führte, näherten sich englische Kettenfahrzeuge. Direkt vor meiner Nase stoppte das erste ruckartig. Ein Engländer sprang heraus und riß von einem gegenüberstehenden Eichenbaum eine Stange mit einem weißen Bettlaken herunter, die "unser" Bauer dort angenagelt hatte. Verächtlich trampelte er darauf herum. Obwohl es die Handlung eines Feindes war, empfand ich sie dennoch voller Genugtuung, hatten wir doch stets gehört und gelesen, welch ein schimpflicher Akt das Hissen der weißen Fahne sei. Ohne von mir oder unserem Hof ansonsten Notiz zu nehmen, rollte die Kolonne weiter. Danach kamen nur ganz unregelmäßig einzelne Panzerfahrzeuge, deren einziges Interesse "eggs", Hühnereiern, galt, welche von den Besatzungen entweder roh ausgelutscht oder auf den glühend heißen Heckplatten der Motoren gebraten wurden. Einmal entdeckte ein Engländer in einer Kammer, die uns Flüchtlingen bis dahin verborgen geblieben war, Paletten voller Eier, die sich bis zur Decke stapelten. Sie wurden restlos requiriert. In meine Wut über dieses rücksichtslose Beutemachen mischte sich Zorn darüber, daß "unser" Bauer seinen Landsleuten aus dem Osten bis dahin nicht ein einziges Ei verkauft hatte.

Es muß am Vormittag des auf diese Ereignisse folgenden Tages gewesen sein, als von der Chaussee Bevensen-Römstedt ununterbrochen Motorengeräusche zu uns herüberdrangen. Irgend etwas mußte dort los sein, und so ging ich, vorsichtig nach allen Seiten sichernd und spähend, zur Chaussee. Ich traute meinen Augen nicht, aber dennoch war es wahr: Dort rollte in geschlossener Formation vollmotorisiert und ohne jeglichen Feind - unsere Wehrmacht! War die Besetzung nach kurzer Dauer vorüber, waren wir wieder vom Feinde frei, sollten die Parolen "Wir werden siegen, weil wir siegen müssen" oder vom "Endsieg", die uns kaum noch etwas zu sagen vermochten, sich zuletzt doch noch bewahrheiten? Als ich bei einem Halt der Kolonne auf das erstbeste Fahrzeug zuging, zerstob dieser Wunschgedanke so jäh, wie er gekommen war. Ein Feldwebel erklärte mir auf meine zögernde Frage, daß sie in Gefangenschaft marschierten - um gleich danach einen halben Sack Zigarren, einen Reisewecker und einige andere Gegenstände hervorzuholen und mir in die Hand drücken zu wollen. Als ich erstaunt und mit den Worten "Aber das gehört doch Ihnen, das brauchen Sie doch selbst!" ablehnte, erwiderte er militärisch knapp: "Jung', nimm, die nehmen uns doch alles weg! Du weißt doch, was ein Befehl ist?" Ich nahm Haltung an, knallte die Hacken zusammen, wie ich es im Jungvolk gelernt hatte, und verließ, aller Hoffnungen auf eine Wende beraubt, gedankenschwer die Stätte des Geschehens.

Wie recht jener Feldwebel mit seinen Vorhersagen hatte, sollte sich alsbald zeigen. Noch am gleichen Nachmittag durchkämmten englische Infanteristen das Gelände. Zwei von ihnen drangen in unsere Flüchtlingsbehausung ein, mit Pistolen in den Händen. Ihre erste Frage war: "Deutsch Soldat, deutsch Soldat?" Daraufhin gingen sie zum offensichtlich eigentlichen Zweck ihres Durchstöberns des Bauernhauses über. Ihre Hemdsärmel waren aufgekrempelt, an jedem ihrer Unterarme prangten mehrere Armbanduhren. Von uns verlangten sie nunmehr noch mehr "watches". Da wir solche zu geben nicht bereit waren, ergriff der eine von beiden eine längliche (Hebammen-) Tasche, die meine Großmutter auf die Flucht mitgenommen hatte. Er fingerte am Verschluß herum und schnitt die Tasche, als er sie hier nicht öffnen konnte, mit seinem Seitengewehr auf. Wütend fuhr ihn meine Mutter an: "Are you a gentleman?" Instinktiv hatte sie damit den stolzesten und zugleich empfindlichsten Punkt eines Engländers getroffen. Im Gesicht puterrot und wortlos flüchteten die beiden förmlich vor dieser Frage und der ihnen unheimlich erscheinenden Fragestellerin.

Wenige Wochen später überquerte ich wieder einmal die Chaussee Bevensen-Römstedt. Hinter einer Kuppe, zu der die Chaussee in Richtung Römstedt anstieg, hörte ich, immer lauter werdend, den Gesang altvertrauter Marsch- und Soldatenlieder herankommen. Dann marschierte über die Kuppe und an mir vorbei in Sechserreihen und straffer militärischer Ordnung eine Marschkolonne, von englischen Posten mit schußbereiten Karabinern und aufgepflanztem Seitengewehr eskortiert. Die deutschen Soldaten hatten noch ihre Hosen und Hemden am Leibe, sonst nichts. Alles andere hatte man ihnen offensichtlich genommen. Stolz war ich auf unsere Soldaten, die sich nicht hatten erniedrigen lassen, sondern auch in ihrer jetzigen "Uniform" darüber hinwegsangen.

Mittlerweile hatte sich auch mein Vater auf abenteuerlichen Wegen zu uns durchgeschlagen. Seit dem Einmarsch der Engländer war jede geregelte Lebensmittelversorgung zusammengebrochen, wir hungerten - auch auf unserem Bauernhof - wie die Kirchenmäuse. Überall in der Lüneburger Heide plünderten und marodierten befreite polnische Zwangsarbeiter. Ein erster nächtlicher Überfall auf unser Gehöft verlief noch glimpflich, nur ein Mastschwein nahmen sie mit. Wenige Nächte später stürmte eine ganze Horde ins Wohnhaus. Da sie sich offensichtlich gut auskannten und zuerst die Wohnräume des Bauern heimsuchten, blieb mir noch Zeit, eilig die aus Königsberg gerettete Geige meines Vaters und meine eigene in meinen Strohsack hineinzuzwängen und die Eheringe sowie ein paar gerettete Schmucksachen meiner Eltern im randvoll gefüllten Aschkasten unseres Herdes zu verstecken. Dann waren die Halunken auch schon in unseren beiden Zimmern. Wir mußten uns auf den Bauch legen, und noch heute spüre ich die kalte Mündung der Maschinenpistole des mich "bewachenden" Polen in meinem Genick. Die Trauer über die wenigen uns geraubten Gegenstände, die damals unersetzlich waren und deren Verlust gerade uns Flüchtlinge besonders schwer traf, existiert noch heute.

Fritjof Berg, Kiel


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