© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Nach Hause
Quer durch Norddeutschland
Klaus Voss

Ich gehörte im April 1945 zur Panzer-Abteilung "106 FHH", die der neu aufgestellten Panzerdivision "Clausewitz" im Raum Lauenburg-Uelzen zugeteilt war. Am 22. April wurden die Räderteile der Panzer-Abteilung in den Raum Hagenow in Mecklenburg verlegt, während unsere Panzer von Uelzen aus in Richtung Süden marschierten.

Am 28. April übernahm ich zusammen mit einem anderen Leutnant ein Panzerjagdkommando des Füsilier-Bataillons "Feldherrnhalle". Wir bekamen den Befehl, mit etwa 120 Soldaten in Richtung Bad Oldesloe zu marschieren, um im dortigen Raum den Durchstoß der Engländer auf Lübeck zu verhindern. Zwar hatte jeder Mann eine Maschinenpistole, und wir verfügten über Maschinengewehre und Granatwerfer, hatten aber nur drei Panzerfäuste und kaum Munition. Auf Nebenwegen abseits der Straßen erreichten wir am 2. Mai Groß-Berkenthin am Elbe-Trave-Kanal. Dort erfuhren wir vom Tode Hitlers. Inzwischen rollten englische Panzer quer vor uns in Richtung Lübeck, denen Infanterie folgte.

Wir hatten in einem Waldstück eine Rast eingelegt. Nach sorgfältiger Abwägung der Lage und unseres Auftrages beschlossen wir, die Einheit aufzulösen und die Waffen zu vernichten, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Für uns brach eine Welt zusammen! Ich beschloß, zu versuchen, zu Fuß in meine Heimat Ostwestfalen zu kommen, ein Soldat schloß sich mir an. So marschierten wir in der Nacht zum 3. Mai los Richtung Süden, nur nach Karte und auf Nebenwegen. In der Morgenfrühe wurden wir beim Pinnsee bei Mölln aus einer Jagdhütte heraus beschossen, und ich verlor meinen Kameraden. Tagsüber schlief ich in Schonungen und vermied jeden Kontakt zu Dörfern oder Personen, immer gegenwärtig, auf Engländer zu stoßen. In der Abenddämmerung marschierte ich weiter, meine Pistole hatte ich noch bei mir. Am 5. Mai morgens erreichte ich die Elbe, die dort etwa 200 Meter breit ist. Schon vorbereitet, zu schwimmen, geschah ein Wunder: Von der anderen Seite kam ein Ruderboot. Mit etwa fünf anderen Soldaten erreichte ich das westliche Ufer. Wieder schlief ich tags in Strohscheunen oder Schonungen. In der Nacht zum 7. Mai geriet ich in Bienbüttel, wo ich die Illmeau überqueren mußte, in eine dort rastende englische Kolonne, ohne bemerkt zu werden.

Am selben Abend erreichte ich Betzendorf bei Amelinghausen und fand dort Quartier beim Bauern Schröder, von dem ich erstmals näheres über die Situation erfuhr. Er riet mir, nicht mehr nachts zu marschieren, weil das zu unsicher sei, und vor allem meine Pistole wegzuwerfen. Diese konnte ich wenig später einem flämischen Angehörigen der Waffen-SS übergeben, der nach Brüssel wollte. Als der Bauer an meiner Uniform sah, daß ich Offizier war, ließ er nicht zu, daß ich im Stall schliefe, und räumte ein Bett frei. Ein großes Abendessen beschloß den Tag, und es kam der 8. Mai 1945.

Es war ein herrlicher, warmer Frühlingstag. Ich ließ mir Zeit und marschierte erst um elf Uhr morgens los, nun bei Tage, aber immer noch auf Nebenwegen. Kurz hinter Amelinghausen lief ich hinter einem Bauernhaus einer englischen Streife in die Arme. "You are soldier?" "Yes ..." Leugnen war zwecklos, trug ich doch noch meine feldgraue Überhose über der schwarzen Uniformhose und Stiefel.

Ich zeigte ihnen mein Soldbuch, mehr hatte ich nicht. Auf der Suche nach "Souvenirs" fand ein Armbandkompaß ihr Interesse. Sie meinten, ich brauche ihn nicht mehr. Darauf die für mich erstaunliche Frage, was ich dafür haben wollte. Schokolade hatten sie nicht, aber gaben mir vier Päckchen Zigaretten "für meinen Papa". Und sie wiesen daraufhin, daß ihre Kameraden in einem Lager in der Nähe "Victory-Day" feiern würden. Ich möchte einen Umweg machen, denn sie würden mich festhalten, zumal sie alle betrunken seien. So geschah es - ich hörte die Engländer grölen und singen, aber war weit genug weg. Abends schlief ich wieder in einer Scheune und gelangte nach weiteren sechs Tagen Fußmarsch über Soltau-Walsrode-Rethem/Aller-Minden-Bielefeld glücklich in meinen Heimatort - 400 Kilometer quer durch Nordwestdeutschland. Den 8. Mai erlebte ich als Tag einer verheerenden Niederlage. 

Klaus Voss, Amorbach


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