© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Im Elendszug
Zweimal aus Mähren vertrieben
Inge Habermann

Ich stamme aus Brünn, habe aber den schrecklichen Brünner Todesmarsch am Fronleichnamstag 1945 nicht mitgemacht. Tschechische Kollegen hatten meinen Vater gewarnt, daß in Brünn Furchtbares geschehen werde. Deshalb brachte er unsere Familie in seine nordmährische Heimat. Hier, in Mährisch Rothwasser und im benachbarten, schon zu Böhmen gehörenden Ober-Erlitz, erlebte ich bei Verwandten das Kriegsende.

Als sich in den ersten Maitagen 1945 die Russen bedrohlich näherten, hielten wir uns tagsüber im Walde auf. Im Gegensatz zu den Kriegsereignissen waren Wetter und Natur damals überaus schön. Als wir am 8. und 9. Mai von der Kapitulation Deutschlands hörten, ging für mich eine Welt unter. Grenzenlose Trauer erfaßte mich.

Als die ersten russischen Truppen eintrafen, hausten sie fürchterlich. Die Wohnung meines Onkels, Herrn Josef Effenbergers, der ein Geschäft und ein Gasthaus besaß, wurde mehrmals geplündert. Was sie nicht mitnehmen konnten, wurde kurz und klein geschlagen, die Betten aufgeschlitzt und Haufen von Kot hineingesetzt. Um Vergewaltigungen zu entgehen, schliefen meine Cousine, ich und andere junge Frauen versteckt auf dem Dachboden des alten Onkels Adolf Effenberger. Zu Christi Himmelfahrt lag ich tagsüber in einem Kornfeld versteckt, während die russischen Kolonnen vorbeimarschierten.

Mehr Unglück als die Russen brachten noch die ortsfremden tschechischen Partisanen. Am 25. Mai kamen mehrere Autos vollbeladen mit diesen nach Ober-Eritz. Nach Raub und Plünderung trieben sie alle männlichen Bewohner außer den wenigen Tschechen und den Kommunisten unter fürchterlichen Begleitumständen zusammen. An der Grenze zu Unter-Erlitz mußten sie sich auf der Straße aufstellen. Jeder wurde namentlich aufgerufen und erhielt je nach "Schuld" schreckliche Hiebe mit einer Stahlrute und einer mehrschwänzigen Peitsche auf den bloßen Rücken, viele blieben blutüberströmt liegen, darunter der junge Hitlerjugendführer Höppe, der wegen seiner Jugend noch nicht eingezogen worden war. Gegen meinen Onkel hatte nichts vorgelegen, als daß er Bürgermeister gewesen war. Zehn schwere Hiebe mußte er erdulden. Ich sah ihn wankend zu Hause ankommen.

Am 6. Juni begannen die Russen noch einmal das ganze Dorf zu überschwemmen, zu plündern und die Frauen zu vergewaltigen. Am 6. Juni um acht Uhr morgens wurden die Deutschen außer den Kommunisten vom Narodni Vybor (Volksausschuß) zusammengetrieben und ihre Vertreibung für zwei Stunden später festgesetzt. Auch meine Cousine Mitzi Effenberger, die hochschwanger war, mußte mitgehen. 25 Kilo Gepäck durfte man mitnehmen. Um 12 Uhr setzte sich der Elendszug in Bewegung. Da meine Eltern und ich in Ober-Erlitz nicht beheimatet waren, standen wir nicht auf der Vertreibungsliste.

Ich schloß mich dem Zug aber an, um meiner Schwester zu Hilfe zu kommen, die mit ihren vier kleinen Kindern aus dem benachbarten Nieder-Ullersdorf ausgetrieben worden war. Damals wußten wir noch nicht, daß der Mann meiner Schwester, Dipl. Ing. Hermann Freising, am 9. Mai 1945, also am ersten Friedenstag, auf der Elbebrücke bei Melnik (Böhmen) durch russischen Tieffliegerbeschuß gefallen war. Der Weg ging ungefähr 12 Kilometer bei glühender Hitze über Grulich, Nieder Lipka, Zollamt zur deutschen Grenze. Dort wurden wir uns selbst überlassen und zogen den Berg hinauf nach Bobischau, dem ersten deutschen Grenzort im Glatzer Land. Hier warteten die schon vertriebenen Ullersdorfer und Adlergebirgler auf uns.

Wir verteilten uns auf eigene Faust auf die einzelnen Bauernhöfe, in deren Scheuern wir Zuflucht fanden. Noch in derselben Nacht brachte Mitzi Effenberger ihr Kind zur Welt - es war taub geboren, wie man später feststellte.

In der Scheuer hausten wir eine Woche und kehrten dann unter abenteuerlichen Umständen nach Mährisch Rothwasser zurück, von wo wir am 30. Juli 1946 in Viehwaggons mit je fünfzig Kilogramm Gepäck "human" ausgesiedelt wurden.

Inge Habermann, Aalen


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