© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Erbitterter Widerstand
Verschiffung in der Weichselniederung
Franz Lattisch

Nach einem nur zweimonatigen Einsatz beim Reichsarbeitsdienst in Tirol wurde ich - gerade 17 Jahre alt geworden - am 9. November 1944 nach Pisek in Böhmen zur Wehrmacht eingezogen. Bereits am 6. Januar 1945 ging es mit einhundert Gleichaltrigen nach Osten. Dort wurden wir dem Heerespionier-Bataillon 505 zugeteilt und an die Front nördlich von Königsberg beordert. Aus diesem Gebiet entstand in den folgenden Wochen der Brückenkopf Samland. Schon am 12. Januar, also etwa neun Wochen nach der Einberufung, kamen wir in einem verlustreichen Gefecht zum Infanterieeinsatz. Das war für die meisten von uns ein schockartiges Ereignis. Es ist mir unvergeßlich, wie am ersten Einsatztag, während des Beschusses mit Stalinorgeln, ein Kamerad neben mir von einem Granatsplitter an der Halsschlagader getroffen wurde und in kürzester Zeit verblutete. Mir quoll der Angstschweiß, trotz klirrender Kälte, aus allen Poren.

Zu der ganz natürlichen Angst um das Überleben kam die quälende Einsicht, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Die absehbare Niederlage mochte man sich aber trotzdem nicht eingestehen. Wohl auch deshalb, weil uns die fürchterlichen Folgen der sowjetischen Besetzung aus eigener Anschauung bekannt waren. In zeitweise zurück­eroberten Landstrichen sahen wir die Plünderungen und hörten die Klagen der von den Rotarmisten brutal vergewaltigten Frauen. Dieses Wissen half die Angst zu überwin­den und bestärkte uns, der gewaltigen Übermacht erbitterten Widerstand zu leisten. Dieser Wille war in unserer Einheit besonders ausgeprägt, weil sie hauptsächlich aus Ostpreußen bestand und die Kämpfe bereits in ihrer unmittelbaren Heimat stattfan­den. An Kapitulieren oder Desertieren dachte bei uns niemand.

Ende April 1945 wurde das Samland in einem geordneten Rückzug geräumt. Unsere Einheit war auf der Frischen Nehrung, der dem Haff vorgelagerten Landzunge, einge­setzt. Wir hatten den Verteidigungsriegel beziehungsweise die dort angelegte Panzersperre bis zum Abend des 7. Mai zu halten und durften uns danach hinter die von anderen Einheiten errichteten weiteren Sperr-Riegel bis zur Weichselmündung östlich des schon im März von der Roten Armee eroberten Danzig zurückziehen. Dort sollten wir eingeschifft und über die Ostsee in eine feindfreie Küstenregion gebracht werden. Im Laufe des 8. Mai rückte unsere Einheit plangemäß bis zu den Verladestellen in Nikelswalde vor. Wir sahen bereits die Fähren und die auf Reede liegen­den Transportschiffe sowie die weiter draußen zu unserem Schutze aufgelaufenen Kriegsschiffe, darunter auch den Panzerkreuzer "Prinz-Eugen".

Im Laufe des Spätnachmittags geriet das Verladen ins Stocken. Wir kamen nur noch schleppend voran, bis bei Anbruch der Dunkelheit der Fährverkehr schließlich ganz eingestellt wurde. Das war eine bittere Enttäuschung, weil sich nur noch zwei Einheiten vor uns befanden und wir uns schon ausgerechnet hatten, abends an Bord eines Trans­portschiffes zu sein.

Zunächst kursierten die verschiedensten Gerüchte über den Grund für die Beendigung der Verschiffungsaktion. Angeblich habe die Kriegsmarine - wie im November 1918 in Kiel - gemeutert, was die Matrosen vor Ort aber bestritten. Andere wollten wissen, daß die Westmächte mit der Sowjetunion gebrochen hätten und mit uns gemeinsam die Russen zurückwerfen wollten. Erst spätabends war zu erfahren, daß Deutsch­land kapituliert hatte und am 9. Mai 1945 eine Minute nach Mitternacht der Waffenstillstand begann.

Richtige Freude über das Kriegsende kam nicht auf. Man war zwar froh, den Krieg überlebt zu haben, aber es überwog die Sorge über die ungewisse Zukunft; sowohl über die eigene als auch über die des ganzen Volkes. Zu dieser Denkweise trug sicher auch die eigene Kriegspropaganda bei, aber maßgeblich dafür war das Verhalten unserer Feinde. Beschießen und Niederwalzen von Flüchtlingstrecks mit Plünderung und Vergewaltigung im Osten sowie die zunehmenden Terror-Luftangriffe auf reine Wohngebiete im Westen waren an der Tagesordnung. Schließlich wurde der Morgenthauplan bekannt, der die Demontage der Industrie Deutschlands und seine Umwandlung in einen Agrarstaat vorsah. Das war die Bewußtseinslage der meisten Soldaten am Ende des Krieges. Vor diesem Hintergrund wurde der 9. Mai ganz gewiß nicht als Tag der Befreiung empfunden.

Was nach dem Kriegsende folgte, war für uns das Gegenteil von Befreiung, nämlich die Kriegsgefangenschaft. Sie war infolge des ständigen Hungers und der Ungewißheit über die Dauer der Gefangenschaft sowie über das Schicksal meiner Angehörigen, die aus unserer sudetendeutschen Heimat vertrieben wurden, eine sehr leidvolle Zeit. Für mich dauerte sie viereinhalb Jahre, die ich im Ural - überwiegend bei der Asbestgewinnung - zubringen mußte.

Die nach meiner Heimkehr in der jungen Bundesrepublik vorgefundenen Lebensverhältnisse sowie die freie Presse lösten Staunen und Bewunderung aus. Ich gewann die Überzeugung, daß dieser junge Staat eine gute Zukunft vor sich hat, weshalb ich gerne an seinem Aufbau mitwirkte. Leider haben sich mittlerweile die politischen Verhältnisse so negativ entwickelt, daß die Demokratie nur noch eingeschränkt gilt.

Auch bei der Beschreibung unserer jüngsten Geschichte ist festzustellen, daß dem Chauvinismus im Dritten Reich der adäquate Ausschlag in die Gegenrichtung, d. h. zu einer extrem antinationalen Darstellung folgte. Dabei wird die den Deutschen zugeschriebene Schuld um so größer, je mehr Zeitzeugen versterben. Die Rolle unserer ehemaligen Feinde wird dagegen keiner ernsthaften Kritik unterzogen. Man enthebt sie damit der moralischen Verpflichtung, sich auch mit ihren Untaten zu befassen. Dieser Vorgang vollzieht sich ohne ernsthaften Widerspruch. Falls es jemand wagt, die Geschehnisse zu "relativieren", hat er Schlimmes zu befürchten. Deshalb hat das deutsche Volk kaum Verteidiger, die sich gegen die ständige Diffamierung wenden. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen elementares Recht. Diese Situation am Ende meiner Tage feststellen zu müssen, ist für mich sehr deprimierend und nur erklärbar durch die von den Hasardeuren des Dritten Reiches verschuldete totale Niederlage von 1945.

Franz Lattisch, Usingen

Foto: Soldaten der Roten Armee werfen bei der Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau am 24. Juni 1945 Fahne und Standarten der deutschen Wehrmacht in den Staub


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