© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Gezeichnet
Im PW-Lager der Amerikaner
Paul F. Wagner

Am Morgen geht wie ein Lauffeuer die Nachricht durch das Lager, daß die restlichen deutschen Truppen die Waffen niedergelegt haben und Deutschland kapituliert habe - bedingungslos.

Wir nehmen das Kriegsende hin, als geschähe es irgendwo auf der Welt und beträfe uns nicht. Wir wissen, was es bedeutet, daß endlich nicht mehr geschossen wird: Eine innere Bewegung, Begeisterung oder Freude ist auf keinem dieser ausgezehrten und verdreckten Gesichtern zu sehen, ist von niemandem zu hören. Für uns kommt die Nachricht zu spät; sie erreicht uns innerlich nicht, kommt aus einer anderen Welt. Einer Welt, der wir nicht mehr angehören, aus der wir ausgestoßen sind. Wer weiß, ob wir je in sie zurückkehren werden. Vielleicht. Aber nicht so, wie wir sie verlassen haben. Was dort geschieht, geht an uns vorbei wie auf einem fremden Stern.

Wir müssen antreten: Fragebogen ausfüllen und abgeben. Alle Finger beider Hände hinstrecken, die ersten Glieder in schwarze Farbe tauchen und auf ein Blatt Papier drücken, das eigens dafür vorgesehen ist. Danach sind wir endgültig als amerikanische Kriegsgefangene verbucht. Ich erhalte einen Zettel, 10,5 mal 6,5 Zentimeter groß. Darauf steht: "Deine Gefangenennummer ist 31G-1 875 766 H. Trage diesen Zettel zu allen Zeiten mit Dir." Das also wäre es: Gefangener Nummer 1 875 766 H. Beinahe hätte ich es zum zweimillionsten Gefangenen der USA gebracht. Als Zweimillionster wäre ich ein besonders schlimmer und gefährlicher Nazi gewesen. In den Sendungen von Radio London haben wir während des Krieges gehört, daß die Alliierten den Krieg nicht gegen das deutsche Volk, nur gegen die Nazis führten. Sie, die Amerikaner schätzten jene Deutschen, die gegen Hitler sind. Eine glatte Lüge.

Hier glaubt keiner mehr, daß die Amerikaner je ernsthaft Deutsche gesucht haben, die keine Nazis waren. Wenn sie nämlich zugäben, daß es diese Deutschen gibt, dann stimmt die Behauptung von der Kollektivschuld nicht, und es gibt keine Rechtfertigung für die bedingungslose Kapitulation und die Behandlung, schlimmer als Aussätzige, die sie uns hier zuteil werden lassen.

Nachdem wir ordnungsgemäß anerkannte Kriegsgefangene der USA sind, müssen wir als amerikanisches Eigentum gekennzeichnet werden. In Dreierreihen stehen wir vor deutschen Kameraden in amerikanischen Uniformen, die mit Pinsel und weißer Farbe bewaffnet sind. Sie malen uns mit einer Schablone ein großes "PW" - Prisoner of War - auf den Rücken. Dann heißt es: "Bücken!" Nun wird auch der Hintern mit dem "PW" gekennzeichnet. "Mach es sorgfältig", empfehle ich dem Kameraden, "das passiert mir so schnell nicht wieder, daß mir jemand die Anfangsbuchstaben meines Namens auf den Hintern malt". 

Paul F. Wagner, Lörrach

Foto: Selbstmord des Leipziger Stadtkämmerers und seiner Familie beim Eintreffen amerikanischer Truppen im April 1945


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