© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Im Geist Morgenthaus
Befreit von allem, was uns lieb und wert war
Ingeborg Triebel-Staewen

Ab März 1945 war ich als Rote-Kreuz-Helferin eingezogen, später untergebracht im Kartoffelkeller eines kleinen katholischen Krankenhauses bei Dortmund, arbeitete im Operationssaal. Bei Kriegsende war ich 22 Jahre alt. Im April 1945 rückten die ersten Amerikaner mit vorgehaltenen Gewehren in den Keller ein, auf der Suche nach deutschen Soldaten. Wir arbeiteten weiter mit der Versorgung von Schwerverletzten. Später hörten endlich die Bombenangriffe sowie die Jagd alliierter Tiefflieger auf Zivilpersonen auf. Was alle wohl als Erleichterung nach jahrelanger Qual erlebten. Der 8. Mai 1945 war ein Alltag wie jeder andere, aber in den kommenden Tagen und Wochen kam mir allmählich das ungeheuerliche Ausmaß dieser bedingungslosen Kapitulation und des Machtrausches der Siegermächte zu Bewußtsein. Es war wie ein Weltuntergang, eine absolute Katastrophe. Ich erfuhr von Freundinnen und Flüchtlingen aus dem Osten von den Folterungen, Morden, Verschleppungen, Vertreibungen, Massenvergewaltigungen. Patienten erzähten vom Grauen in den Kriegsgefangenenlagern der Alliierten, wo unzählige auf freiem Feld ohne Schutz vor Wind und Wetter hinter Stacheldraht ohne ausreichende Nahrung lange Zeit eingepfercht waren, der Willkür, dem Hunger, den Krankheiten, dem Tod ausgeliefert. Die Alliierten fühlten sich und stellten sich auch selbstverständlich so dar: als die Besatzungsmacht, die darüber zu bestimmen hatte, wie viel oder wenig die Besiegten zu essen bekommen. Mit 800 bis 1.000 Kalorien pro Tag in der britischen Zone war jeder dem allmählichen Hungertod preisgegeben, der nicht "hamstern" konnte oder über einen Garten verfügte. In meiner ganzen Umgebung war niemand, der sich befreit gefühlt hätte, es ging der Spruch später um: "Sie haben uns befreit von allem was uns wichtig, lieb und wert war."

Der Vernichtungsfeldzug der Alliierten hielt bis 1948 an, im Geiste des Morgenthau-Plans, wenn auch in weniger spektakulärer Form. Persönlich erhielt ich 1947 während des Studiums karge Rationen, bei zwanzig Prozent Untergewicht; meine Großmutter starb 1946 an offener Tuberkulose, meine jüngste, bei Kriegsende sieben Jahre alte Schwester, sah nicht viel besser aus als ein Gerippe und weinte sich oft vor Hunger in den Schlaf. Mein Vater kam schon 1947 aus einem amerikanischen Lager zurück, er war Chefarzt eines Feldlazaretts im Krieg gewesen. Bei der Heimkehr war er ein körperlich und seelisch gebrochener, kranker Mann, der Jahre brauchte, um sich von diesem Trauma zu erholen, und nie wieder berufsfähig wurde. Deutschland wurde eines Drittels seines Territoriums beraubt, Millionen von Menschen verloren Leben und Heimat. Industrie und Landwirtschaft wurden um ein Vielfaches reduziert, einseitige Schuldzuweisungen den Deutschen aufgezwungen, eigene Verbrechen völlig verschwiegen und somit den jüngeren Deutschen ein den Realitäten fremdes, verzerrtes, gefälschtes Bild ihres eigenen Volkes eingeimpft.

Befreit wurden die Lagerinsassen. Die Masse kämpfte in den ersten Nachkriegsjahren ums nackte Überleben, jeder, der sich heute auf diese Realität bezieht, kann das unschwer erkennen. Man muß nur die Rede Konrad Adenauers vom 22. März 1949 über die Besatzungspolitik lesen, um davon eine Ahnung zu bekommen.

 Ingeborg Triebel-Staewen, Unkel


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