© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Unter Beschuß
Als Rot-Kreuz-Schwester vor Tangermünde
Annemarie Kirsche

Mein 8. Mai war schon drei Tage früher. Seit 1942 unterrichtete ich als Schulhelferin in Ostpommern. In den Weihnachtsferien 1944 fuhr ich zu meinen Eltern nach Görzke im Brandenburgischen. Dort wurde ich krank, mußte mich operieren lassen. Wieder gesund, versuchte ich im Februar, nach Pommern zurückzufahren. Ich kam nur bis Berlin.

Die westlichen Alliierten hatten ihren Vormarsch westlich der Elbe gestoppt, die Russen näherten sich von Osten. Unser Ort schien der Mittelpunkt der Erde zu sein. Soldaten - in Trupps, aber auch einzeln - zogen zu Fuß, per Rad, kreuz und quer durch unseren Ort. Die Frauen kochten täglich Mengen von Kartoffeln, um sie zu verpflegen. Meist bekamen sie auch noch etwas dazu. Die Lebensmittellager waren geöffnet, und da auch noch geschlachtet worden war, mangelte es uns nicht an Eßbarem.

Mitte April kam der Hauptverbandsplatz "Theodor Körner" in unsere Schule. Wir drei arbeitslosen Lehrerinnen kamen auf die Idee, die Verwundeten mit Obstkonserven zu versorgen, die uns aus der örtlichen Fabrik reichlich zur Verfügung standen.

Dann wurde die Sanitätsmannschaft geteilt. Der Stabsarzt, der bei einer unserer Familien Quartier hatte, fragte uns, ob wir drei bereit wären, in der Sanitätsgruppe mitzuarbeiten. Wir waren schließlich ausgebildete DRK-Helferinnen. Wir taten es gern. So hatten wir im "OP" (einem Klassenraum) Dienst: acht Stunden Einsatz, acht Stunden frei, rund um die Uhr. Unsere Verwundeten gehörten zum großen Teil der 9. Armee an und waren oft tagelang unversorgt, wenn sie bei uns ankamen. Ein Großteil dieser Truppe wurde bekanntlich bei Halbe eingekesselt.

Als der Befehl kam, der HVP müsse sich weiter nach Norden absetzen, verhandelten unsere Eltern mit dem Stabsarzt, und wir drei und noch 15 andere Mädchen, die unsere anfängliche Tätigkeit fortgesetzt hatten, zogen in den letzten Apriltagen aus unserem Ort nordwärts. In einem kleinen Dorf im Fiener Bruch versorgten wir noch weiter die Verwundeten, die schon eine ganze Zeit vorher über die Behelfsbrücke bei Fischbeck - gegenüber von Tangermünde - in amerikanische Gefangenschaft gebracht wurden. Schließlich machte unser HVP bei Fischbeck Quartier. Am 5. Mai 1945 kam der Befehl, daß er als Brückenkopf so lange wie möglich am Ostufer bleiben sollte, mit russischem Beschuß sei zu rechnen.

Am Abend des 5. Mai brachten uns unsere Sanitäter an die Behelfsbrücke, damit wir am jenseitigen Ufer in Sicherheit vor den Russen seien. Gegen 22 Uhr ließ uns der diensthabende Offizier, der für den geordneten Übergang verantwortlich war, über die primitive Brücke. Im Gänsemarsch überquerten wir sie. Es war dunkel, das Wasser der Elbe gurgelte unter uns, hinter uns am östlichen Ufer brannten die Lagerfeuer der deutschen Soldaten. Plötzlich kam eine Melodie näher, das Deutschlandlied! Sie pflanzte sich über die ganze Brücke fort. Uns war bewußt, daß wir jetzt das freie, noch nicht besetzte Deutschland verließen. Nicht nur wir Mädchen weinten.

Am jenseitigen Ufer empfingen uns fremde Laute, trieben uns zur Eile. Wir wurden in eine kleine, erleuchtete Kirche, nicht weit vom Ufer gebracht. Da sahen wir sie, die Sieger: Auch Frauen und Farbige in Uniform, Kaugummi kauend, die Frauen mit knallroten Lippen, den Stahlhelm schief auf dem Kopf, am Arm einige Armbanduhren, um den Hals einige Fotoapparate, die scheinbar deutschen Soldaten abgenommen wurden. Sie fuchtelten mit ihren aufgepflanzten Bajonetten vor uns herum, obwohl alle Waffen, sogar alle Messer am östlichen Ufer zurückgelassen werden mußten. Entsetzt sahen wir uns an: "Und gegen die haben wir den Krieg verloren!"

Im Laufe der Nacht kamen ständig Soldaten westwärts über die Elbe. Die Kirche füllte sich mit Verwundeten, so daß wir sie gegen Morgen räumen mußten. Wir hockten davor auf unseren Rucksäcken und warteten. Worauf? Es ist merkwürdig, wie schnell sich Lethargie breitmacht! Plötzlich ein Ruf: "Unser HVP!" Wir sprangen auf! Die erschrockenen Amerikaner hielten uns mit ihren Bajonetten in Schach. Unsere Sanitäter wurden weitergetrieben. Wir blieben zurück. Inzwischen kamen immer wieder Lastwagen, auf denen Soldaten abtransportiert wurden. Wir gelangten auf einen von diesen und fuhren Richtung Tangermünde. Wir überholten unsere Sanitäter. Wir riefen und winkten, doch zu schnell fuhren wir an ihnen vorüber. Kurz vor der Stadt stiegen wir ab und warteten. Da kamen sie. Die Amerikaner versuchten uns von ihnen fernzuhalten. Es gelang uns doch, mit ihnen zu sprechen. Sie gaben uns noch Brot und Wurst, dann wurden wir gewaltsam von ihnen getrennt.

In der Stadt wimmelte es von Soldaten, Frauen und Mädchen, die sich provisorisch Rote-Kreuz-Häubchen gestichelt hatten und auch irgendwie herübergekommen waren. Wir meldeten uns bei dem (deutschen) Stadtkommandanten. Er erklärte uns, daß wir uns frei bewegen könnten. Wir beratschlagten. Die meisten hatten ein Ziel und machten sich auf zu irgendwelchen Verwandten im Westen. Übrig blieb unsere Jüngste. Ich nahm sie mit und wir machten uns zu Fuß auf zu meinen Großeltern in der Magdeburger Börde. Manchmal konnten wir ein Stück mit einem Lkw oder einem Pferdefuhrwerk fahren.

Am 8. Mai waren wir unterwegs in der Letzlinger Heide. An einigen Stellen brannte der Wald und niemand kümmerte sich darum. Irgendwann kamen wir an. Und als am 1. Juli Ausgangssperre ausgerufen wurde, weil die Russen nun noch bis an die braunschweigische Grenze vorrückten, schlüpfte ich hinten aus dem Dorf und ging die zwölf Kilometer nach Helmstedt zu meiner Tante. Endgültig in westliche Sicherheit!

Annemarie Kirsche, Salzgitter

Foto: Ein deutscher Kriegsgefangener im amerikanischen Lager Trepsen liest in der US-Soldatenzeitung "Stars and Stripes" die Nachricht vom Tode Hitlers


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