© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/05 13. Mai 2005

Moskauer Gespenster
von Dieter Stein

Kein Volk der Welt hat einen höheren Blutzoll im Zweiten Weltkrieg gezahlt als das russische. Dreizehn Millionen Soldaten und sieben Millionen Zivilisten verloren auf sowjetrussischer Seite in diesem mörderischen Krieg ihr Leben. Nichts ist nachvollziehbarer, als daß auch für das Rußland der postkommunistischen Ära der 9. Mai 1945 ein zentraler nationaler Gedenktag ist.

Was sich nun aber in Moskau abgespielt hat, ist doch ein befremdliches Spektakel. Staatschef Putin, der um die Einheit seines an den Flanken von Zerfall bedrohten Reiches und den Status als Weltmacht kämpft, verlegt sich auf eine gespenstische Reaktivierung des sowjetischen Mythos. Die russische Metropole ertrank in roten Fahnen. Den Hekatomben von Gulag-Opfern zum Trotz erklärte Putin: Der Sieg der Roten Armee sei ein Sieg der Freiheit gewesen! Wie höhnisch muß dieser Satz in den Ohren aller mittel- und osteuropäischen Völker, aber auch der Deutschen, ja eigentlich der Russen selbst klingen, die von der Roten Armee vergewaltigt und dem kommunistischen Terror ausgeliefert wurden. Ein deutscher Kanzler hat auf einer solchen Veranstaltung nichts verloren, wenn er nicht Einspruch erhebt.

Die Geste des US-Präsidenten Bush, der dagegen demonstrativ das Baltikum besuchte, bevor er nach Moskau kam, könnte Respekt auslösen. Nur: Die USA waren der Sowjetunion bei der Okkupation Osteuropas ab 1939 nicht in den Arm gefallen, sondern hatten sogar mit ihr kooperiert. Befreien mußten sich die baltischen Völker selbst.


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