© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/05 13. Mai 2005

"Wir müssen mehr auf das Volk hören"
Großbritannien: Mit 35,2 Prozent sichert sich Labour die dritte absolute Mehrheit in Folge / Erfolg für Irak-Kriegsgegner
Sigrun Saunderson

Tony Blair geht in die Geschichte ein: als einziger Labour-Premier, der drei Wahlen in Folge gewann. Ein weiterer Rekord stellt ihn in ungünstigeres Licht: Labour gewann diese Wahlen mit dem geringsten Stimmenanteil, den eine Regierungspartei jemals erreichte.

Nur 35,2 Prozent der Wählerstimmen - 22 Prozent der insgesamt Wahlberechtigten - hievten Blairs Partei noch einmal in die Regierung. Allein dank des britischen Mehrheitswahlrechts genießt Labour eine absolute Mehrheit von 356 der 646 Unterhaussitze. Doch das Abschmelzen der Mehrheit von 161 auf 67 Sitze ließ die Gewinner wie Verlierer aussehen. Sogar Blair gab zu: "Wir müssen mehr auf das Volk hören."

Michael Howard zeigte sich zufrieden. "Wir haben Herrn Blair eine deutliche Botschaft gesandt." Obwohl der Stimmenanteil der Konservativen bei 32,3 Prozent beinahe auf dem Niveau der letzten Wahlen stagnierte, konnten sie dennoch 31 zusätzliche Sitze erlangen. Das Ergebnis einer perfekt ausgeklügelten Kampagne, die gezielt jene Wahlbezirke bearbeitete, in denen die Konservativen eine realistische Chance auf einen Sieg hatten. Doch von einem Aufschwung der Tories kann keine Rede sein. Ihre Mandatzahl liegt immer noch weit unter dem schlechtesten Labour-Ergebnis seit 1945. So stellte Howard schon am Tag nach der Wahl seinen Rücktritt als Parteiführer und damit den vierten Führungswechsel während Blairs Regierungszeit in Aussicht.

Als lachende Dritte stellten sich die Liberaldemokraten (LibDems) heraus, die ihren größten Erfolg seit den zwanziger Jahren verbuchten. Sie schnappten Labour zwölf Wahlkreise weg und erlangten mit 22 Prozent der Wählerstimmen 62 Parlamentssitze - elf mehr 2001. Parteichef Charles Kennedy sieht eine Chance in dieser ausgeglicheneren Mandatsverteilung: "Ich glaube, es wird ein anderes Unterhaus werden als das der letzten acht Jahre. Und ich glaube, das wird sehr gesund sein, egal auf welcher politischen Seite man steht."

Im Gegensatz zu den LibDems fanden weder die EU-feindliche United Kingdom Independence Party (UKIP) und deren Abspaltung Veritas unter dem Fernsehmoderator Robert Kilroy-Silk (JF 18/05) noch die Grünen oder die rechte British National Party (BNP) unter Nick Griffin (JF 01/05) Eingang ins Parlament. Einzig die nationalistischen Parteien in Schottland und Wales konnten ihre Stammwähler halten.

Der sensationellste Sieg ist dabei wohl der des dezidierten Irakkriegs-Gegners George Galloway vom Linksbündnis Respect (Resistance, Equality, Socialism, Peace, Environment, Community and Trade Unions) in Londons ärmstem (und von Einwanderern bewohnten) Bezirk Bethnal Green. Galloway startete einen persönlichen Rachezug gegen Blair, nachdem dieser ihn vor einem Jahr wegen "parteischädigender Äußerungen" im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg aus der Labour-Partei ausgeschlossen hatte. Der Fünfzigjährige, der schon mit 27 Labour-Chef in Schottland war, baute seinen gesamten Wahlkampf auf Blairs Irak-Lüge: "Herr Blair, die vielen Toten und die Lügen, die Sie erzählt haben, werden Sie verfolgen. Das Beste, das die Labour Partei jetzt tun kann ist, Sie morgen früh zu entlassen." Damit verdrängte er in einem erbitterten Kampf die 37jährige farbige Labour-Abgeordnete Oona King - nicht ohne Konzessionen (etwa beim Thema Abtreibung und Rauschgift) an die konservative muslimische Wählerklientel zu machen.

In Nordirland gipfelte die Entwicklung hin zu den Extremen in einer Niederlage der gemäßigt-britischen Ulster Unionist Party, die nur einen einzigen Sitz halten konnte, während die radikal-britische Democratic Unionist Party unter Ian Paisley ein Rekordergebnis von neun der 18 nordirischen Sitze erreichte. Die IRA-nahe Sinn Féin erlangte trotz des Bankraub-Skandals (JF 06/05) auch ein zusätzliches Mandat. Ulster-Unionist-Führer und Friedensnobelpreisträger David Trimble trat umgehend von der Parteispitze zurück.

Schon am Tag nach der Wahl stellte der Premierminister sein neues Kabinett zusammen. Nur Schatzkanzler Gordon Brown, Außenminister Jack Straw und Innenminister Charles Clarke bleiben in ihren Ämtern. Bei der Neuverteilung der Posten stieß Blair auf erheblichen Widerstand einiger Minister, die die Übergabe der Regierungsgeschäfte an Gordon Brown verlangten. "Blair ist zu einem Hindernis geworden", argumentierten die Ex-Kabinettminister Frank Dobson und Robin Cook. Insgesamt verlangten über ein Dutzend Labour-Minister den baldigen Rücktritt Blairs. Doch David Blunkett, den Blair als neuen Arbeitsminister in sein Kabinett zurückgeholt hat, appelliert an alle Parteimitglieder, zusammenzuhalten.

Arbeit gibt es genug. Die Regierung hat nun wichtige Entscheidungen zu treffen. Darunter die umstrittene Einführung von Personalausweisen als angebliches Mittel im Kampf gegen den Terror (JF 03/05), die Pensionsreform, eine Verbesserung der Einwanderungspolitik, die während des Wahlkampfes ein zentrales Thema wurde, und eine grundlegende Reform der in den letzten Jahren stark gestiegenen Gemeindesteuern - ein weiterer Streitpunkt im Wahlkampf.

Verstärkter Widerstand auch aus den eigenen Reihen

Schließlich wird auch eine Reform des Wahlsystems notwendig: "Ich finde das menschenrechtswidrig, daß die Stimmen einiger Mitbürger mehr Wert haben als die Stimmen anderer", erklärte frustriert Graham Watson von den LibDems. "Wenn eine Partei 22 Prozent bekommt und weniger als zehn Prozent der Sitze, ist das irgendwie fies."

Schon während der letzten Legislaturperiode ließ Blair prüfen, das derzeitige Mehrheits- durch ein Verhältniswahlrecht zu ersetzen. Damals noch als undurchführbar erklärt, wird nach diesem knappen Ausgang die erstarkte Opposition das Thema Wahlrecht bald aufgreifen. Blair hat nun in allen Streitfragen auch mit verstärktem Widerstand aus den eigenen Reihen zu rechnen. Umstrittene Pläne sind nicht mehr so autoritär wie gewohnt durchsetzbar. Vor allem die aggressive und US-freundliche Außenpolitik wird er in Zukunft etwas vorsichtiger angehen müssen.

Doch zunächst muß Blair den G8-Gipfel in Schottland im Juli sowie den EU-Vorsitz in der zweiten Jahreshälfte über die Bühne bringen. Spätestens aber zum nächsten Parteitag im September 2006, so hoffen optimistische Blair-Gegner, hat Labour eine neue Führung.


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