© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/05 13. Mai 2005

Von Märtyrern und Maulhelden
Aus den Asservatenkammern der Literatur: Uwe Tellkamps Romans "Der Eisvogel"
Doris Neujahr

Uwe Tellkamps "Eisvogel" ist einer der seltenen aktuellen Romane aus Deutschland, die man um ihrer selbst willen zu Ende liest, und zwar in einem Zug. Das heißt noch nicht, daß er wirklich gut ist und man ihn ein zweites Mal lesen möchte, aber immerhin: Tellkamp (Jahrgang 1968) beherrscht den rasanten Perspektivenwechsel, den spannenden Plot, die eindrucksvolle Metapher - die am 11. September 2001 zerstörten New Yorker Türme des Welthandelszentrums nennt er Fafnir und Fasolt -, und er besitzt ein soziales Gespür, das tiefer reicht als der ästhetische Widerwille und Ekel.

Das Buch beginnt mit einem eindrucksvoll beschriebenen Mord, einem Verbrechen mit Hinter-grund. Der Täter ist der hochbegabte Wiggo Ritter, ein arbeitsloser Philosoph, der seine Assistentenstelle an der Universität verloren hat. Er hat sich als Anhänger "deutschen Tiefsinns" à la Heidegger und Hölderlin zu erkennen gegeben und wird daraufhin als "Kryptofaschist" vor die Tür gesetzt. Die Drohung seines Professors Leon Hertwig, er werde dafür sorgen, daß Wiggo beruflich nie wieder Fuß fassen würde, hat sich erfüllt. Er ist am Ende, und es nützt ihm nichts, daß er ein Bankierssohn ist. Denn auch sein Vater hält - zwar aus anderen Gründen - seinen Weg für falsch. Überdies spannt er ihm die Frauen aus bzw. engagiert Gespielinnen, die Wiggo auf Touren bringen sollen. Der fühlt sich als Versager und leidet an einem Vaterkomplex.

Er gerät an den charismatischen Mauritz Kaltmeister, die personifizierte Synthese aus Stefan George und dem späten Samurai Yukio Mishima. Mauritz und dessen schöne Schwester Manuela sind Anführer der "Organisation Wiedergeburt", die die heruntergewirtschaftete, von Alt-68ern okkupierte Demokratie durch einen elitären Ständestaat ersetzen will, in dem Ehre, Idealismus, Form und Pathos wieder zu ihrem Recht kommen. Die - wohl inzestuös verbundenen - Geschwister sind Waisen, ihre Eltern wurden von RAF-Terroristen umgebracht. Mauritz' Aktionsprogramm? "Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, wirklich und nachhaltig etwas zu verändern, ist der organisierte Terror."

Ist das nun, wie manche raunen, der erste ernstzunehmende neurechte Roman? An Willen dazu fehlt es Tellkamp nicht. Bereits die Namen sind Programm: Die Figuren heißen Hildegard, Oda, Ansgar und Jost. Wiggo bedeutet "der Kämpfende", "Ritter" versteht sich von selbst, desgleichen "Kaltmeister". "Mauritz" erinnert an den Heiligen Mauritius, den römischen Soldaten und christlichen Märtyrer, der im 3. Jahrhundert als Anführer der Thebaischen Legion hingerichtet wurde.

Darüber thront der Eisvogel, eine mythologische Figur: Alkyone, die Tochter des Äiolus, und ihr Mann, König Keyx, wurden in Eisvögel verwandelt, nachdem Keyx ertrunken war und Alkyone sich vor Gram ins Meer stürzte. In einer anderen Variante ist ihre Verwandlung die Strafe des Zeus, weil Alkyone und Keyx sich in ihrem Hochmut als Hera und Zeus bezeichnet hatten. Der Eisvogel spielt auch auf Hermann Hesses "Demian"-Roman an, wo gleichfalls ein Raubvogel als symbolisches Leitmotiv fungiert.

Tellkamp hat aus den Asservatenkammern der deutschen und internationalen Literatur entnommen, was gut und teuer ist. Es soll hier nicht detailliert ausgemessen werden, wieviel sonst noch von Hesse, Jünger, Salomon, von Wilhelm Hauff, Dostojewski, Bret Easton Ellis und Thomas Manns "Wälsungenblut" in das Buch eingegangen ist. Die "Organisation Wiedergeburt" dürfte vom "Bund zu deutscher Erneuerung" inspiriert sein, den Edgar Julius Jung in seiner Streitschrift wider "Die Herrschaft der Minderwertigen" beschwor. Die Schilderung der Großstadt erinnert an Botho Strauß' "Paare, Passanten". Mit Strauß teilt Tellkamp den Ekel an der deutschen Gegenwart, begnügt sich aber nicht mit dem Gestus des ästhetisierenden Dandys, sondern agiert als Sprachrohr sozialer Wut. Er trifft das Gefühl einer Generation, die aus der Illusion der New Economy erwacht ist, und realisiert, daß die Gutmenschen alles Tafelsilber für ihre egoistische Fettlebe verscherbelt haben. An diesen Stellen spürt man: Es wird ernst!

Trotzdem gelingt der Sprung vom Post- zum Neuheroismus nicht wirklich. Wiggo und Mauritz sind letztlich bloß Maulhelden. Wiggo hat die moribunde Gesellschaft durchschaut - was freilich mehr behauptet als nachgewiesen wird - und bleibt doch von ihrer Anerkennung abhängig. Sein Aus-der-Welt-Fallen erreicht keine existentielle Dimension.

Als er sich nach dem Verlust der Assistentenstelle in der Wohnung verbarrikadiert, lassen seine Schwester und sein bester Freund umgehend die Tür aufbrechen, weil sie einen Suizid befürchten. Soviel Mitmenschlichkeit ist mehr, als den meisten je zuteil wird. Schenken wir uns die Stilblüten und die politische Philosophie auf Pennälerniveau. Die Schilderungen aus der rechtsterroristischen Szene scheinen den Bekenntnisbüchern von Ex-Neonazis entnommen zu sein, die seit 15 Jahren nichts anderes tun als auszusteigen.

Die Idee schließlich, einen Anschlag auf das Berliner Nobelkaufhaus KaDeWe zu verüben, ist von biederer Einfallslosigkeit. Wenn schon Terror, dann doch bitte eine Bombe unter dem Stuhl einer bestimmten Talkshow-Schnepfe!

Am Ende kehrt Tellkamp in den Schoß der BRD-Konvention zurück. Vor der Rache gegen den Professor - die zugleich sein Entree für die "Organisation Wiedergeburt" werden soll -, schreckt er zurück, weil er im allerletzten Moment erfährt, daß Hertwig Häftling in Auschwitz war:

Da ist er wieder, der neudeutsche Deux ex machina oder, wie wir es nennen wollen, die posthitleristische Variante der Erda-Methode, wie Nietzsche sie im "Fall Wagner" karikiert hat: "Ein ganzer Akt ohne Weiberstimme - das geht nicht! Aber die 'Heldinnen' sind im Augenblicke alle nicht frei. Was thut Wagner? Er emancipiert das älteste Weib der Welt, die Erda: 'herauf, alte Großmutter! Sie müssen singen!' Erda singt. Wagners Absicht ist erreicht. (...) In summa: eine Scene voller mythologischer Schauder, bei der der Wagnerianer ahnt ..."

Es ist kein Zufall, daß Tellkamp, der soviel Mühe auf die Plausibilität der Fakten verwendet hat, an dieser Stelle ein Fehler unterläuft. Auf einem 1938 aufgenommenen Foto entdeckt Wiggo den Judenstern, der aber erst 1941 eingeführt wurde.

Das ist kein kunstvoller Kopistenfehler, wie ihn Botho Strauß zur Ironisierung verwendet, denn es kommt noch schlimmer. Wiggo tut dem Professor längst leid. Klammheimlich hat Hertwig ihm Geld zukommen lassen und sich um eine neue Anstellung für ihn bemüht. Als Mauritz zu Wiggo sagt, ehemalige KZ-Insassen können durchaus "Arschlöcher" sein - man denke auch an die SED-Führung -, als also der Punkt erreicht ist, wo der Roman tatsächlich subversiv zu werden verspricht, läßt Tellkamp den Eisvogel in der ARD-"Lindenstraße" bruchlanden. In pathetisch gestimmten Zeiten nannte man das: Verrat an der Kunst. 

Foto: Ins Waser tauchender Eisvogel: Nach Höhenflügen durch Mythologie und Literaturgeschichte läßt Tellkamp ihn in der "Lindenstraße" bruchlanden

Uwe Tellkamp: Der Eisvogel. Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2005, gebunden, 318 Seiten, 19,90 Euro


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