© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/05 13. Mai 2005

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Prioritäten
Karl Heinzen

Arbeit macht frei", hieß es vollmundig und zynisch auf dem Eingangstor zum Konzentrationslager Auschwitz. "Arbeit hat Vorfahrt", belehrte eine Leinwand die Delegierten des jüngsten FDP-Bundesparteitages in Köln. Die Akzente haben sich verschoben.

Sicherlich wäre es falsch und ungerecht, ausgerechnet die blau-gelbe Bewegung für Eigentums- und Bürgerrechte in eine Traditionslinie mit den Nationalsozialisten zu stellen. Querdenker der Opposition nehmen sich allerdings die Freiheit heraus, ohne Scheuklappen darüber zu räsonieren, inwiefern die von der einzigen deutschen Partei mit antifaschistischer Vergangenheit vorgetragene Kapitalismuskritik antisemitische Denkmuster offenbare. Da sollte es doch opportun sein, einen entsprechenden Erkenntnisgewinn durch die Frage anzustreben, ob es nicht vielleicht auch eine Wesensverwandtschaft zwischen den Ideologien der Freien Marktwirtschaft und des Nationalsozialismus gibt. Immerhin haben nicht wenige Repräsentanten des heutigen Regierungsbündnisses letzteren in bewegten Jugendjahren einmal als terroristische Variante bürgerlicher Klassenherrschaft durchschaut.

Zu konstatieren ist dabei, daß die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital die Befreiung im Kern überdauert haben - eine Sozialbindung des Eigentums gab es bekanntermaßen, wenn auch mit etwas anderen Konnotationen, bereits vor 1945. Dieses einstmals plakativ als "Restauration" bezeichnete Phänomen läßt sich darauf reduzieren, daß der Hauptwiderspruch des Kapitalismus erhalten geblieben ist: Der Charakter der Produktion ist unverändert gesellschaftlich, die Aneignung der Produkte hingegen nach wie vor individuell durch jene, die über die Produktionsmittel verfügen.

Den Widerspruch als Recht durchzusetzen, ist Aufgabe des Staates. Dazu muß er sich, wie nicht zuletzt die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik zeigt, grundsätzlich keiner terroristischen Methoden bedienen, diese bleiben vielmehr Ausnahmesituationen vorbehalten. Den Massen erscheint es als selbstverständlich, daß sie ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um die sich ihnen im Rahmen der bestehenden Ordnung bietenden Lebenschancen ergreifen zu können. Derart mit Vernunft beseelt, bedürfen sie nicht der Illusion, daß Arbeit, gar metaphysisch verstanden, "frei" mache. "Vorfahrt" für Arbeit werten sie als Prioritätensetzung, die ihren Interessen verpflichtet ist.

Dabei hat nicht allein die FDP damit durchaus anderes im Sinn: Die Arbeit vieler soll weiterhin die Quelle des Reichtums weniger bleiben.


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