© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/05 20. Mai 2005

Liberale Hegemonie in Bedrängnis
Kanada: Sollte Ministerpräsident Martin die Vertrauensabstimmung verlieren, stehen vorzeitige Newahlen an
Mark Wegierski

Kanada, wo immer noch die britische Königin Elisabeth II. formelles Staatsoberhaupt ist und ihr Vertreter, der für jeweils fünf Jahre ernannte Generalgouverneur, ihre Amtsgeschäfte wahrnimmt, gilt nicht gerade als Hort politischer Instabilität. Dennoch könnten demnächst vorgezogene Neuwahlen anstehen.

Denn am 10. Mai forderte das Unterhaus des kanadischen Parlaments mit 153 gegen 150 Stimmen den Finanzausschuß auf, dem liberalen Premierminister Paul Martin nach einer Amtszeit von zehn Monaten das Vertrauen zu erziehen. Deshalb hat Martin, dessen Liberale Partei (LP) seit den Wahlen im Juni 2004 mit nur 131 von 308 Sitzen regiert (JF 30/04), nun für den 19. Mai eine Vertrauensabstimmung angesetzt. Wenn seine Regierung diese verliere, werde er das Parlament auflösen.

Neuwahlen könnten frühestens am 27. Juni stattfinden. Die LP könnte das Votum überstehen, wenn neben den 19 Abgeordneten der sozialdemokratischen New Democratic Party (NDP) zwei Ex-Liberale und ein Ex-Konservativer für den Premier stimmten. Dann käme es zu einem Patt von 153 zu 153 Stimmen, und die Stimme des LP-Parlamentspräsidenten Peter Milliken könnte den Ausschlag zugunsten der Regierung geben, da ein Sitz vakant ist.

Die im Dezember 2003 aus der Verschmelzung der Canadian Alliance mit der "ultramoderaten" Progressiv-Konservativen Partei hervorgegangene Konservative Partei (CP) hatte 2004 statt des erwarteten Wahlsiegs nur 99 Sitze erringen können. In der Hoffnung, dieses enttäuschende Ergebnis nun zu revidieren, brachte die CP mit Hilfe des Bloc Québécois (BQ) den Mißtrauensantrag gegen Martin auf den Weg.

Die Separatistenpartei verfügt über 54 der 75 für die mehrheitlich französischsprachige Provinz Québec reservierten Unterhausmandate. Der BQ verspricht sich seinerseits von Neuwahlen eine Verbesserung dieses Ergebnisses sowie eine neuerliche Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Québecs von Kanada, nachdem die Anläufe 1980 und 1995 scheiterten.

Den Manövern zugrunde liegt ein bereits vor den letzten Wahlen bekannter "Bimbes"-Skandal um hundert Millionen kanadische Dollar, die in die Taschen prominenter Québecer Liberaler gewandert sein sollen. Im Raum steht der Vorwurf, daß die LP Steuergelder zur Förderung des kanadischen Einheitsgedankens in Québec für die Finanzierung ihres eigenen Wahlkampfes zweckentfremdet haben soll. In die Schlagzeilen und ins öffentliche Bewußtsein rückte der Fall jedoch erst, seit im April eine richterliche Untersuchungskommission ihre Arbeit aufnahm.

Nachdem sie ihr fragwürdiges Finanzgebaren nun nicht länger unter den Teppich kehren kann, versucht die LP den Konservativen einen Strick daraus zu drehen, daß sie mit den Québec-Separatisten gemeinsame Sache machen. Doch scheint es historisch unvermeidlich, zu einer Einigung mit den frankokanadischen Nationalisten zu gelangen, die beispielsweise die Form einer massiven Devolution der Regierungsmacht an alle elf Provinzen (sowie zwei Territorien) annehmen könnte.

Die LP stellt sich gerne als Verteidigerin der "kanadischen Einheit" dar - was jedoch tatsächlich darauf hinausläuft, eine linksliberale Weltsicht, einen bürokratischen und juridischen Zentralismus sowie die endlose Vorherrschaft der Liberalen zu institutionalisieren, die sich selbst als "natürliche Regierungspartei in Kanada" bezeichnen.

Auf den ersten Blick scheint das heutige Kanada die liberalsten Aspekte der USA und Europas zu vereinen - man könnte es sogar als die "freiheitlichste" Gesellschaft der Welt bezeichnen. Die Regierung in Ottawa hat bereits einen Gesetzentwurf zur Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen vorgelegt, der nun vom Parlament abgesegnet werden muß. Sollte er dort scheitern, wird er direkt ans Oberste Gericht verwiesen.

Der mittlerweile florierende "juridische Aktivismus" begann 1982 mit der Aufnahme der "Charta der Rechte und Freiheiten" in die Verfassung. Mit diesem eher links- als klassisch liberalem Dokument gelang es der Regierung Pierre Elliott Trudeaus (mit einer neunmonatigen Unterbrechung 1979/80 Premierminister von 1968 bis 1984), quasi ihr gesamtes Parteiprogramm als Gesetz festzuschreiben. Die Erdrutschsiege der Progressiv-Konservativen unter Brian Mulroney 1984 und 1988 änderten daran wenig, und seit 1993 sind wieder die Liberalen am Ruder.

Auch die Doktrinen des Multikulturalismus, der affirmative action mit ihren Quotenregelungen für Angehörige ethnischer Minderheiten (der amtliche Begriff lautet employment equity, Beschäftigungsgerechtigkeit) und der programmatischen "Vielfalt" stehen hoch im Kurs in einem Land, das bei einer Bevölkerung von 32 Millionen jährlich etwa 250.000 Einwanderer aufnimmt.

Einige der negativsten Aspekte der US-Kultur haben inzwischen ebenfalls in die kanadische Gesellschaft Eingang gefunden: die Exzesse der Popkultur sowie der politischen Korrektheit oder der Hang, alle Probleme durch Gerichtsverfahren lösen zu wollen.

Dafür fehlen entscheidende Faktoren, die südlich der Grenze diese Trends einzudämmen vermögen: In Kanada erzeugt die Regierung etwa die Hälfte des Bruttosozialprodukts (in den USA nur ein Drittel). Neben sehr viel höheren Steuersätzen unterscheidet das Land sich durch ein staatliches Gesundheitswesen und strenge Waffengesetze von seinem großen Nachbarn. Evangelikale und strenggläubige Katholiken, die im letzten November wesentlich an George W. Bushs Wiederwahl mitwirkten, spielen kaum eine gesellschaftliche, geschweige denn politische Rolle, und die Debatte um die Freigabe der Abtreibung gilt praktisch als abgeschlossen.

Ein weiterer extremer Kontrast besteht in der negativen Einstellung, die viele Kanadier (insbesondere Angehörige der Eliten) zum Militär pflegen. Insgesamt verfügen die Streitkräfte des Landes über eine Truppenstärke von etwa 58.000 Männern und Frauen. Die Sicherheits- und Flüchtlingspolitik der Regierung läßt ebenso zu wünschen übrig wie der Grenzschutz.

Früher wie heute scheint die Kanadier eine ungewöhnliche Neigung zum Gehorsam gegenüber der jeweiligen Obrigkeit auszuzeichnen. Bis 1965 galten sie im Vergleich zu ihren südlichen Nachbarn als sehr viel konservativer - eine höfliche und "nette" Gesellschaft, der viele negative Merkmale der damaligen USA abgingen. In der Folge der "Trudeau-Revolution" fand an der Spitze ein Paradigmenwechsel statt, und nun scheinen die meisten Bürger gewillt, den neuen, politisch korrekten Vorgaben aus Ottawa zu folgen.

Gleichzeitig haben die Liberalen sich nach Kräften bemüht, die bürgerlichen Parteien so schwach wie möglich zu halten. So förderten sie die Progressiv-Konservativen zum Schaden der Canadian Alliance und ihrer Vorgängerin, der Reform-Partei, und sorgten dafür, daß von der genuin konservativen Substanz beider Parteien wenig übrigblieb. An kanadischen Standards gemessen, würden viele der gemäßigten Republikaner und konservativen Demokraten wohl als "Rechtsaußen" gelten.

Im letzten Jahrzehnt hat sich der Linksliberalismus zwar (vermutlich als Reaktion auf den Zusammenbruch der Sowjetunion) immer wieder bereit gezeigt, in fiskalischen und wirtschaftspolitischen Fragen "rechte" Positionen zu übernehmen, seinen Kampf gegen konservative Inhalte jedoch um so erbitterter fortgeführt.

Während linke außerparlamentarische Organisationen staatliche Förderung erhalten, müssen ihre konservativen Gegenstücke wie die National Citizens' Coalition oder das Fraser Institute sich ausschließlich über Spenden finanzieren. Die linke NDP von Jack Layton, der auch Trudeau ursprünglich angehörte, verfügt zwar über wenig Parlamentarier, übt aber einen enormen intellektuellen Einfluß aus.

Die derzeitige Lage - eine fast völlige kulturelle Hegemonie der Linken, die kaum eine echte Debatte in den Universitäten oder in der Presse zuläßt - verspricht wenig Hoffnung für die Zukunft. Von einem intellektuellen Gleichgewicht zwischen Liberalen und Konservativen kann jedenfalls keine Rede sein. Selbst wenn die Rechnung der beiden Oppositionsparteien aufgeht, steht zu befürchten, daß eine künftige Regierung unter CP-Chef Stephen Harper ähnlich blockiert würde, wie es Brian Mulroney 1984 trotz seiner breiten Parlamentsmehrheit erging.

 

Mark Wegierski lebt als freier Publizist und Geschäftsmann im kanadischen Toronto.

Foto: Premier Paul Martin mit Anhängern: Von einem intellektuellen Gleichgewicht zwischen Liberalen und Konservativen kann keine Rede sein


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