© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/05 20. Mai 2005

Eurovision Song Contest: Die Rache der "Casting"-Shows
Gracias Wunderwelten
Clemens Walter

Nun ist es endlich wieder soweit. Die ARD macht sich auf den Weg nach Kiew und bringt uns das Finale des Grand-Prix de la Chanson d'Eurovision ins Haus, der mittlerweile unter dem Anglizismus "Eurovision Song Contest" firmiert. Motto des diesjährigen Wettbewerbs ist der Titel "Awakening", zu deutsch: "Erwachen". Deutschland, das unter diesem Stichwort historisch eindeutig vorbelastet ist, hätte im letzten Jahr beinahe die neudeutsche Popgruppe Mia ins Rennen geschickt, die nach den absurden Vorwürfen der Deutschtümelei den Titel ihres dazugehörigen Albums noch schnell geändert hatten - aus der allzu "Deutschen" wurde klammheimlich die "Stille Post".

Auch die Abstimmung von unlauteren Mitteln beeinflußt?

In Kiew wird Deutschland nun aber von Gracia vertreten. Eine Frau, über die man im Vorfeld zumindest eines sagen kann: Sie brachte diesem Land kein bißchen Frieden und kein bißchen Freude. Ihr Produzent David Brandes hatte die Platten seines Schützlings durch Strohmänner aufkaufen lassen und dadurch die sogenannte "Wild-card" erhalten, mit deren Hilfe Gracia noch am nationalen Vorausscheid hatte teilnehmen dürfen. Inzwischen ist Brandes von den Listen der Phonographischen Wirtschaft gestrichen worden. Der NDR - der bei der Übertragung federführend ist - hat ihn ebenfalls ausgeschlossen, will allerdings an der Kandidatin Gracia Baur (22) festhalten, schließlich geht man davon aus, daß zumindest die Zuschauerabstimmung für sie regulär ausgefallen sei.

Das muß man "Baur"nschläue nennen. Denn mittlerweile dürfte jedem aufmerksamen Betrachter klar sein, daß in vorliegenden Fällen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch die Telefon-Abstimmung oftmals von unlauteren Methoden beeinflußt ist.

Branchenkollegen wie Udo Jürgens, Peter Maffay, Guildo Horn, Gunter Gabriel und die bislang einzige deutsche Grand-Prix-Gewinnerin Nicole hatten derweil jedenfalls erfolglos versucht, den Ausschluß von Gracia zu betreiben. Womöglich zum Glück, denn es wäre ein Wechsel vom Regen in die Traufe gewesen. Wir wollen uns erinnern: Beim nationalen Vorausscheid hätte beinahe ein Wiederholungstäter das Rennen gemacht - das wäre alles andere als "A miracle of love" gewesen. Denn mit den Interpreten, Nicole Süßmilch und Marco Matias, waren zwei in der Castingflut des DSDS-Syndroms nach oben gespülte Gesangspartner in die vorläufige Endrunde gelangt, die das Liedgut von Ralph Siegel in den Wettbewerb geschmuggelt hatten. Dieser hatte sich unter einem Pseudonym beteiligt. Gleichwohl war seine Teilnahme nicht unerwartet gewesen, schließlich hatten Kenner der Materie schon vorab auf die Aussendung seiner melodischen Altlasten, des "Schlagerschrotts" (Zitat: Udo Lindenberg), Brief, oder besser: Ralph & Siegel gegeben.

Im nationalen Endausscheid unterlagen sie schließlich Gracia, die ursprünglich durch die Casting-Show "Deutschland sucht den Superstar" bekannt geworden war. Nicht zuletzt, weil Daniel Küblböck damals - aufgrund ihres vorzeitigen Ausscheidens - vor laufender Kamera einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Das einzige, was an Gracias Vortrag in Erinnerung blieb, war - neben dem Songrefrain - ihr amazonenhaft herausgestellter Busen und damit die nicht unerhebliche Frage: Gewann sie nun mit 52,8 Prozent oder doch mit Körbchengröße D?

Stell Dir vor, es ist Grand Prix und keiner sieht hin!

Einst hieß es: Wo Menschen singen, laß dich nieder - von wegen. Casting-Menschen, die haben vielleicht Lieder! Da heißt es Vorsicht und, um den Siegertitel zu zitieren, der uns Kiew repräsentiert: "You'd better run and hide!"

Das wäre auch ein passendes Motto gewesen, um den zahllosen Peinlichkeiten zu entgehen, denen man als Zuschauer beim nationalen Vorausscheid ausgesetzt war. Dem grenzwertigen Udo Lindenberg etwa, für den seine Muse, die erklärtermaßen bisexuelle Ellen ten Damme, ins Rennen gegangen war. Lindenberg hatte bei jenem Anlaß dem Moderator eine aus den achtziger Jahren stammende Pistole mit verknotetem Lauf überreicht und nuschelte dazu cool: "Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin!"

Das war so furchtbar originell und engagiert, daß man denken mochte: Stell Dir vor, es ist Grand Prix d' Eurovision, und keiner hört hin! Oder: Keiner sieht hin! Oder auch: Keiner kriegt's hin!

"Superstar der Herzen" Gracia: "You'd better run and hide!"


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