© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/05 20. Mai 2005

Barmherzigkeit als Reizwort
Harald Fühners Studie der Verfolgung von NS-Verbrechern in den Niederlanden nach 1945 am Beispiel der "Vier von Breda"
Jerker Spits

Nach dem Ende der deutschen Besatzung standen die Niederlande 1945 vor der Aufgabe, gemäß den Regeln eines Rechtsstaats mit den Verbrechen der Besatzungsjahre abzurechnen und diejenigen zu bestrafen, die den Nationalsozialismus oder die deutsche Besatzungsmacht unterstützt hatten. Mehr als 100.000 Personen wurden nach Kriegsende als Kollaborateure oder Kriegsverbrecher verhaftet.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit wollte die niederländische Politik verhindern, daß die Bevölkerung das Recht in die eigene Hand nahm und Unrecht mit Unrecht vergalt. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte die niederländische Exil-Regierung schon 1943 in London die juristische Basis für eine "Besondere Rechtsprechung" gelegt. Ziel war, schnell und streng Recht zu sprechen und die Gesellschaft davon zu überzeugen, daß konsequent zwischen "Gut" und "Böse" getrennt würde. Für schwere Delikte wurde die seit 1886 abgeschaffte Todesstrafe wieder eingeführt.

Die zum Teil äußerst emotionalen Debatten um die Behandlung der "politischen Delinquenten" - von der Spitze der niederländischen National-Sozialistischen Bewegung (NSB) bis zu leichten Fällen und Unschuldigen - hat der am Zentrum für Niederlande-Studien an der Universität Münster promovierte Harald Fühner in seiner Studie analysiert. Es ist Fühners Verdienst, erstmals umfassend und nach intensiver Unterlagenforschung den gesamten Zeitraum der niederländischen Verfolgung von Kollaborateuren und NS-Verbrechern von 1945 bis 1989 dargestellt zu haben.

Dabei unterscheidet Fühner in seiner chronologisch aufgebauten Arbeit vier Phasen, die den Auf- und Abwärtsbewegungen des öffentlichen Interesses beziehungsweise der Erregung in der niederländischen Gesellschaft entsprechen. Eine "Phase der Bestrafungen" wurde abgelöst von einer "Phase der Begnadigungen" - die allerdings bereits 1948 anfing, zwei Jahre vor dem Ende der ersten. Die Periode danach deutet Fühner als eine "Phase der zweiten Bewußtwerdung", der Anfang der siebziger Jahre eine "Phase der Blockade" folgte. Diese endete schließlich in eine "Phase der Beruhigung und des Durchbruchs".

Viel Aufmerksamkeit schenkt Fühner den Diskussionen um die "Vier" - später drei, und dann zwei - von Breda. Es handelt sich dabei um vier Gefangene, die von den Niederländern nach dem Zweiten Weltkrieg als Hauptkriegsverbrecher angeklagt und verurteilt worden waren. Das Schicksal der im Kuppelgefängnis von Breda inhaftierten Kriegsverbrecher Franz Fischer, Ferdinand Hugo aus der Fünten, Willy Lages und Johann Josef Kotälla war Gegenstand nationaler Politik. Lages wurde 1966 wegen schwerer Krankheit freigelassen, Kotälla starb 1979 in Gefangenschaft, Ferdinand Hugo aus der Fünten und Franz Fischer starben kurz nach ihrer Freilassung 1989.

Besonders interessant sind die Vorgänge in den siebziger Jahren. Durch ein ungeschicktes Auftreten des Justizministers und späteren Ministerpräsidenten Dries van Agt kam die mögliche Freilassung der "Drei von Breda" 1972 erneut auf die Agenda. Auf einer Pressekonferenz erklärte Van Agt, im Parlament besonders große Schwierigkeiten mit deren Freilassung zu erwarten, weil er jünger und im Gegensatz zu seinem jüdischen Amtsvorgänger "Arier" sei. Die Öffentlichkeit zeigte sich empört über diese Formulierung. Im Parlament stieß Van Agt auf eine ausgeprägte Opposition. Der Weg zu einer Begnadigung schien für die Volksvertreter verschlossen. Fühner verweist allerdings auch auf den Einfluß von politischen Interessenvertretungen - jüdische Vereinigungen, vor allem aber die verschiedenen Verbände des ehemaligen Widerstands -, die ihre Ziele oft in einem Konfrontationskurs gegen die Regierung erreichten. Das "innenpolitische Tauwetter nach der kältesten Phase des Kalten Krieges" habe es auch kommunistisch ausgerichteten Organisationen ermöglicht, mit ihren Interventionen etwas zu bewirken.

Eine psychologische Argumentation habe seit Anfang der siebziger Jahre die Debatten bestimmt. "Weil die Opfer so sehr gelitten hatten und immer noch litten, mußten ihnen das letzte Wort in Sachen 'Drei von Breda' übertragen werden", faßt Fühner die Situation zusammen. Daß es 1989 zu der Freilassung Fischers und aus der Füntens kam, ist auf einen von prominenten Niederländern unterzeichneten Aufruf zurückzuführen. Auch einige ehemalige Widerstandskämpfer waren der Ansicht, daß Grundprinzipien des Rechtsstaats im Fall der "Zwei von Breda" mißachtet wurden. Für diesen Rechtsstaat hatten sie in der Besatzungszeit ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Die Zeitung Trouw sprach sich 1987 für eine Begnadigung aus: "Wie können wir neuen Generationen erklären, daß eine solch unmenschliche Strafe angebracht ist, ohne die Glaubwürdigkeit desselben Rechtsstaats ernsthaft in Frage zu stellen?"

Fühners "Nachspiel" sollte, wie der Autor in seinem Vorwort schreibt, "auch für solche Leser zugänglich sein, die sich noch nicht vertieft mit der niederländischen Nachkriegsgeschichte beschäftigt haben". Vermutlich hat dieses Anliegen dazu beigetragen, daß der Autor sich an manchen Stellen allzu tief auf die politischen, kulturellen und historischen Rahmenbedingungen seines Themas einläßt.

Mehrere Kapitel hätten kompakter ausfallen, viele Wiederholungen - vor allem im vierten und fünften Kapitel - gestrichen werden können. Auch für deutsche Leser, die über wenig Kenntnisse der niederländischen Nachkriegsgesellschaft verfügen, wäre es besser gewesen, wenn Fühner Teile seiner Darstellung gekürzt hätte. Was einmal mehr beweist, daß vielleicht gerade Doktoranden von einer guten Lektorenarbeit abhängig sind.

Problematisch ist auch, daß Fühner in seiner Analyse der öffentlichen Meinungsbildung auf drei niederländische Zeitungen zurückgreift, deren Auswahl er mit der engen Bindung an eine "Säule" in der niederländischen Gesellschaft begründet. Die Zeitung De Volkskrant wurde vor allem von Katholiken, die Zeitung Trouw vor allem von Protestanten gelesen. Het Parool schrieb vor allem für kritische Sozialdemokraten. In Fühners Auswahl fehlt eine liberale Zeitung. Außerdem ist, wie Fühner zugibt, die Kopplung an eine bestimmte weltanschauliche Gruppe seit Ende der sechziger Jahre, als die Säulen ihre bindende Wirkung verloren, problematisch. Die Repräsentativität der drei untersuchten Zeitungen kann man also durchaus in Frage stellen.

Für Leser, die an dem niederländischen Umgang mit den eigenen und deutschen Kriegsverbrechern interessiert sind, lohnt sich die Lektüre aber allemal. Fühners "Nachspiel" zeigt auf, wie emotional die Debatte in den Niederlanden, vor allem um die in Deutschland kaum bekannte öffentliche Auseinandersetzung um die "Vier/Drei/Zwei von Breda", geführt wurde. Auch für die Erforschung der deutsch-niederländischen Beziehungen kommt Fühners Arbeit große Bedeutung zu.

 

Harald Fühner: Nachspiel. Die niederländische Politik und die Verfolgung von Kollaborateuren und NS-Verbrechen, 1945-1989. Waxmann Verlag, Münster 2005, 471 Seiten, gebunden, 39,90 Euro

 

Mitglieder jüdischer Organisationen protestieren gegen die Entlassung der "Drei von Breda", Februar 1972: Phase der Blockade


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