© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/05 27. Mai 2005

Kolumne
Ein beklemmender Eindruck
Klaus Motschmann

Die Auseinandersetzungen um den jüngsten Verfassungsschutzbericht haben erneut einen beklemmenden Eindruck von dem immer weiter voranschreitenden Verlust des Rechtsbewußtseins und des politischen Realitätsbewußtseins in weiten Teilen unserer herrschenden Klasse vermittelt. Von einer ernsthaften Bedrohung der verfassungsmäßigen Ordnung durch den Linksextremismus war kaum noch die Rede. Er wurde zwar noch erwähnt, vermutlich aber nur, um dem Verdacht zu begegnen, daß man in diesen Kreisen auf dem linken Auge nun völlig erblindet sei.

Der Rechtsextremismus wird selbstverständlich in gewohnter Manier dargestellt, den man aber dank der antifaschistischen Volksfront im "Kampf gegen Rechts" im Griff habe. Besondere Erwähnung fand der islamische Terrorismus; allerdings verbunden mit der Warnung vor "Verallgemeinerungen", denn er werde nur von etwa einem Prozent der hier lebenden Moslems unterstützt. Die Fixierung der "Beobachtungen" auf den politischen Extremismus am "Rand" der Gesellschaft lenkt nämlich von der Tatsache ab, daß es auch ernsthafte Bedrohungen unserer Grundordnung aus der "Mitte" der Gesellschaft gibt, in der sich viele 68er am Ende langer Märsche durch die Institutionen etabliert haben. Zu diesen Bedrohungen gehört unter anderem die permanente Mißachtung eines ehemals entscheidenden Grundsatzes der politischen und rechtlichen Auseinandersetzung: daß es nicht allein darauf ankommt "wer, wann und wo" beobachtet und demzufolge im Verfassungsschutzbericht erwähnt wird, sondern darauf, wie das Ergebnis dieser Beobachtung zu beurteilen ist. Darüber wird aber nicht vom Verfassungsschutz entschieden, auch nicht in Presse, Funk und Fernsehen, auch nicht auf Partei- und Kirchentagen, sondern allein von den Gerichten. Mit der bloßen Erwähnung einer Vereinigung im Verfassungsschutzbericht hat sie noch nicht die Grundrechte verwirkt, denn die "Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Verfassungsgericht ausgesprochen" (Artikel 18 Grundgesetz). Man erinnere sich nur einmal daran, mit welcher Akkuratesse dieser Grundsatz im Umgang mit dem Linksextremismus eingehalten wurde und eingehalten wird. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein, denn im Umgang mit dem Rechtsextremismus gelten diese Regeln nicht mehr. Wer beobachtet eigentlich diese schleichende Zersetzung unseres Rechtsbewußtseins? Bedeutet sie keine Gefahr?

Man erinnere sich, daß Demokratien nicht nur von den "Rändern" Gefahr droht, sondern auch aus der "Mitte". An geschichtlichen Beispielen fehlt es nicht.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


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