© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/05 27. Mai 2005

Pankraz,
W. A. Mozart und die glücklichen Luxuskühe

Neulich sah Pankraz eine Reportage über einen modernen Bauernhof in Norddeutschland. Die Kühe wurden dort nicht mehr gemolken, weder maschinell noch von Hand, sondern sie melkten (oder heißt es "molken"?) sich gewissermaßen selbst. In dem offenen Melkstall war eine raffinierte Anlage eingebaut, über die sich die Kühe einfach zu stellen hatten - und schon griffen wie von Geisterhand blitzende, hochsensible Saugrohre nach den Zitzen des Euters, massierten sie liebevoll, nahmen ihnen die Milch ab und leiteten sie umgehend in keimfreie Behälter weiter. Dazu ertönte aus dem Off gedämpft klassische Musik, Mozarts "Kleine Nachtmusik", Bachs "Wohltemperiertes Klavier".

Es war faszinierend. Es gab keine festen Melkzeiten mehr, sondern die Kühe latschten ("wenn es sie drückt", wie der Reporter sagte) ganz von allein in den Stall und stellten sich über die Anlage. "Eine enorme Arbeitsersparnis", kommentierte der Reporter. "Der Beruf des Melkers ist überflüssig geworden. Man braucht nicht einmal mehr zu prüfen, ob die abgenommene Milch in Ordnung oder irgendwie krank ist. Auch dies besorgt das Aggregat, klebt automatisch ein Gütesiegel oder ein Warn-Etikett auf jeden gefüllten Behälter. Und die Kühe sind glücklich."

Über den letzten Satz machte sich Pankraz Gedanken. Was war denn wichtiger, das Glück der Kühe oder das Glück der wider Willen freigesetzten und nun arbeitslos gewordenen Melker? Und hatten die festen Melkzeiten früher den Lebenstakt der Kühe nicht wohltätig strukturiert? Man weiß doch, wie sehr es den meisten Tieren, speziell den höheren Säugetieren, gefällt, wenn ihr Dasein in feste Tages- und Nachtrhythmen eingeteilt wird. Ganz abgesehen davon, daß die Begegnung zwischen Kuh und Melker auch nicht zu verachten ist. Sie festigt den Dauerkontakt zwischen Mensch und Tier, stiftet eine Gemeinsamkeit, die von beiden als wohltuend und interessant empfunden wird.

Ist all das wirklich wettgemacht durch das "Glück" der Kühe, die nun nicht mehr zu warten brauchen, "wenn es sie drückt", sondern die den Druck sofort höchstselbst beseitigen können? Immerhin haben sie Bach und Mozart statt der aufmunternd-plumpen Rufe der früheren Melker. Was macht Kühe glücklicher: direkter Menschenkontakt nach festem Tagesrhythmus oder das Anhören klassischer Musik nach Gusto und Belieben?

Die Sache mit der klassischen Musik war zweifellos der Knüller in der Reportage. "Wir haben experimentiert", erklärte der Gutsbesitzer, "haben früher auch Musik der Beatles oder von Mick Jagger eingesetzt. Aber das klappte nicht. Die Kühe gingen viel seltener in den Stall hinein und gaben weniger Milch. Es war ganz klar: Sie wollten Mozart und nicht Mick Jagger. Übrigens war auch Beethovens Neunte kein Erfolg, trotz Freude, schöner Götterfunken. Mozart ist das Optimum."

Keine allzu aufregenden, schmetternden Klänge also, schon gar nicht Disharmonien, vielmehr Gleichmaß und Kontinuität, Gelassenheit des Taktes, Dur vor Moll, vor allem: Harmonien, Harmonien und noch einmal Harmonien. Es scheint da ein machtvolles Gesetz des Lebens zu walten. Harmonie respektive Symmetrie ist offenbar eine ästhetische Formkraft, die weit über exklusiv menschliche Verhältnisse hinausreicht. Symmetrieachsen determinieren die Körperbildung sowohl bei Pflanzen wie bei Tieren. Und bei vielen höheren Tierarten bestimmt Harmonie bzw. Symmetrie unübersehbar das Balz- und Paarungsverhalten.

Manche dieser Tiere investieren derart viel Lebenszeit und Lebensenergie in die Herstellung oder Darstellung harmonischer, symmetrischer, an sich aber sonst ganz "zweckloser", manchmal sogar für das eigene Überleben gefährlicher Liebesspiele, daß man nicht umhin kann, anzuerkennen, daß hier wohl tatsächlich ein ästhetischer Naturtrieb am Werke ist, der auf Harmonie und Symmetrie zielt und der ein Tier gegebenenfalls sogar dazu bringen kann, seine Aufmerksamkeit für das Anschleichen von Freßfeinden zu vernachlässigen.

Der Harmonietanz ist zwar vom Fortpflanzungstrieb beflügelt, wird von ihm jedoch gewiß nicht voll abgedeckt. Bei bestimmten Balztänzen von Kranichen oder Eistauchern, die so ungeheuer intensiv, zeitraubend und symmetrisch präzise verlaufen, dürfte es auch dem härtesten Materialisten schwerfallen, darin etwas anderes als pure Ästhetik, einen Dienst des interesselosen Wohlgefallens an der Harmonie zu sehen. Denn die sexuellen Dinge sind, wenn die Tänze absolviert werden, längst entschieden, die Partner sind sich längst einig.

Etwas von diesem interesselosen Wohlgefallen an der Harmonie ist wohl auch in den zu Mozart- und Bachklängen sich selber melkenden Kühen lebendig. Ihre Euter, von der modernen Zuchtwahl zu fast obszönen Größen hochgetrieben, sind weiß Gott nicht sonderlich ästhetisch, entstellen die natürliche Symmetrie-Harmonie ihres übrigen Körperbaus beträchtlich. Um so bemerkenswerter die Vorliebe für in Harmonien schwelgende klassische Musik beim Melken. Sie wirkt beinahe wie ein Ausgleich für "im Dienst an den Menschen" preisgegebene Schönheit.

Kleine Erfahrung noch am Rande: Als Pankraz einmal in der Schweiz einen jener Bauernhöfe besichtigen durfte, in denen die hochdelikaten schüsselgroßen Rundkäse hergestellt und gelagert werden, stieß er auf einen alten Melker, der sagte: "Maschinelles Melken gibt's bei uns nicht. Denn das würde der Qualität unserer Käse ganz außerordentlich schaden." Was hätte der Alte wohl zu den glücklichen Luxuskühen aus der norddeutschen Tiefebene gesagt? Ist Superkäse ein schlagendes Argument gegen Mozartklänge im Kuhstall?

Dazu Goethe zu Eckermann (14. Februar 1831): "Eine Erscheinung wie Mozart schlägt immer zum Guten aus. Sie bleibt ein Wunder, das nicht weiter zu erklären ist."


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