© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/05 03. Juni 2005

Epoche des Übergangs
Chronik eines angekündigten Todes: Ein Franzose sorgt sich um den Potenzverlust der Deutschen
Eberhard Straub

Franzosen machen sich traditionell Sorgen um Geburtenraten. Sie fürchteten schon im 18. Jahrhundert, zu einem aussterbenden Volk zu gehören, weil ihnen die Menschen ausgingen. Also die wichtigste Grundlage jeglichen Reichtums, wie ihre Ökonomen verkündeten, die den Menschen als wichtigsten Rohstoff betrachteten, der alle übrigen Rohstoffe zu verarbeiten vermag, ihnen darüber einen Wert verleiht und im Verwertungsprozeß der Humanenergien einen Wert empfängt. Immerhin, Franzosen gibt es noch, sogar in zunehmender Zahl.

Hatten sie nach ihrer Niederlage 1815 wachsende Schwierigkeiten, sich in der Konkurrenz mit England, dem Deutschen Bund und dann dem Deutschen Reich oder den USA zu behaupten, lag das nicht an ihrer langsamen Bevölkerungsentwicklung. Es waren vor allem die Revolution und der napoleonische Imperialismus, die Frankreich politisch und ökonomisch dauerhaft geschadet hatten. Die Revolution hing unmittelbar mit einer Stimmung unter vielen beunruhigten Franzosen zusammen, zu einer absteigenden, veraltenden und kraftlos werdenden Nation zu gehören, die sich nicht mehr zurechtfindet in einer sich verändernden Welt.

Insofern sollten sich Deutsche nicht allzu rasch in Aufregung versetzen lassen, wenn ein Franzose diesmal nicht den Untergang Frankreichs, sondern den Deutschlands prophezeit und damit gleich den Untergang des Abendlandes. Denn wenn eine der großen Nationalitäten ihre Seele verliert, dann werden alle übrigen krank. Auf diese Warnung Jules Michelets, des großen Historikers und Nationalisten - was im 19. Jahrhundert bei der Erfindung der Nation ein und das gleiche sein mußte - beruft sich Yves-Marie Laulan in seiner Polemik: "Allemagne - chronique d'une mort annoncée" (Deutschland - Chronik eines angekündigten Todes), um die Deutschen davon abzuhalten, sich selbst auszulöschen.

Er sieht Deutschland in einer großen Krise, einer demographischen, ökonomischen, politisch-institutionellen und einer geistigen. Es befindet sich für ihn schnurstracks auf dem abschüssigen Pfad hin zu seinen Untergang, völlig entnervt und todeslüstern, aber deshalb immer dazu fähig, seine Nachbarn mit ins Verderben zu reißen. Wer das Leben liebt, muß sich um Deutschland sorgen, um ein Land, das katastrophensüchtig den Tod hofiert, weil es das Leben nicht liebt. Das hatte schon zornig Poincaré den Deutschen vor hundert Jahren vorgeworfen. Deutsche hat dieser Vorwurf nie sonderlich bekümmert.

Sie hielten sich, wenn wieder einmal alles ruiniert war, an die wenig lebenslustige, aber unbedingt aufbauende Devise: "Und jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, / wir steigern das Bruttosozialprodukt". Die Arbeitsethik der deutschen Lutheraner mißfällt dem Katholiken Laulan. Mit Luther fängt für ihn alles Böse an, das über Kant und Bismarck konsequent zu Hitler führt. Die Deutschen sind von der Wahrheit abgefallen. Geblendet von der Sonne Satans taumeln sie durch die Geschichte und finden nie zu sich. Sie waren Militaristen, Imperialisten, Massenmörder, immer nach Macht begierig und störten das ruhige Welterleben ihrer Nachbarn.

Sie wurden bestraft, sie nahmen die Strafe auf sich und wollen sich nie mehr strafbar machen. Löblich und gut, aber wo ist nur der deutsche Arbeitseifer und militärische Geist geblieben? Das fragt sich der irritierte Franzose. Deutsche, die nicht arbeiten und es sich in der sozialen Hängematte bequem machen, geben, wie er meint, ein schlechtes Beispiel und verführen die übrigen Europäer zu Müßiggang und anderen Lastern wie Hedonismus und Egoismus. Der Deutsche übertreibt ganz einfach einmal wieder. Er kann gar nicht anders, weil er als ungeschulter Kandidat zur höheren Geschmacks- und Menschenbildung kein Maß kennt. Hélas! Diese Deutschen bereiten einem durch die Jahrhunderte hin nur Kummer!

Weil sie nicht mehr in die Kirche gehen, halten sie auch nicht mehr den heimischen Herd für heilig und das Wohl des Vaterlandes für vieler Opfer würdig. Sie arbeiten nicht, sie beten nicht, sie lesen nichts, vor allem keine französischen Autoren, sie denken überhaupt nicht mehr, regen die Welt nicht an und regen sie auch gar nicht mehr auf. Kein Wunder, daß diese Deutschen, die ihre Seele verloren haben und nicht mehr an sich glauben, es versäumen, Familien zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen.

Laulan, ein neoliberaler Katholik mit ländlichem Hintergrund, hält sich an die gemütlichen Empfehlungen der Vichy-Regierung: Arbeit, Familie, Vaterland. Die Deutschen arbeiten, wie er vermutet, nicht, sie gründen keine Familien, beides weil sie ihr Vaterland nicht lieben. Das sie doch jetzt lieben könnten und müßten, weil sie eingedenk ihrer Schuld wissen, unter keinen Umständen fremdenfeindlich aufzufallen oder die europäische Solidarität etwa durch Eigensinn zu stören. Ihre gefährlichste Saumseligkeit äußert sich darin, frei nach Schiller, keine Menschen mehr zu machen, was bestätigt, daß sie keine lieben können.

Laulan hält Deutschland aufgrund seiner Lieblosigkeit nicht dazu berufen, selbständig zu handeln, aus Liebe zur Menschheit oder auch nur der Europäer. Dazu bedarf es der Unterstützung, der Übereinstimmung des menschenfreundlichen Frankreich, das - an der Zeugungsfront vorerst aktiver - Deutsche dazu überreden müsse, daß nur Arbeit, Familie und Vaterland Europäern dazu verhelfen, weiter eine Potenz zu bleiben. Allerdings beurteilt er Frankreich nicht allzu optimistisch, weil gelähmt von ähnlichen Symptomen nachlassender Vitalität. Bei den Deutschen fürchtet Laulan einen willentlichen Verzicht darauf, potent zu sein, Potenz in weltpolitischen Zusammenhängen zu bekunden, womit sie alle übrigen Europäer mutlos machten.

Anderenteils ist sich Laulan gar nicht gewiß, ob sich dieses unberechenbare Deutschland nicht als das ewig gleiche, böse Deutschland bemerkbar machen werde, sollte sich die Krise verschärfen. Warum also mehr Deutsche in Europa, das sich vor Deutschen wie eh und je fürchten muß? Darauf weiß er keine Antwort.

Wir leben in Europa mitten in einer neuen Spätantike. Die war damals eine Epoche des Übergangs in eine christliche, germanisch-romanische, slawisch und arabisch durchmischte "neue" Welt. Die Deutschen und Europäer sollten sich von Dekadenzstimmungen, die Franzosen in periodischen Abständen anfallen, nicht verwirren lassen. Was sie erleben, sind nur gleitende Übergänge in neue Bildungen, unabhängig von den früh veralteten nationalen Formen, die gerade Deutsche oder Italiener einst wie eine französische Kinderkrankheit heftig heimgesucht hatten.

Laulan ist ein verängstigter Nationalist, der an den Deutschen das fürchtet, wovor sie - wie die Italiener - im gemeinsamen Heiligen Römischen Reich selten bangten: sich mit allen möglichen Freunden oder Bittstellern zu vermischen und in dauernden Metamorphosen zu einer überraschenden Gestalt zu finden. 

Yves-Marie Laulan: Allemagne - chronique d'une mort annoncée. François-Xavier de Guibert Paris 2004, 218 Seiten, 20 Euro

Foto: Grabstätte Deutschlands: Sorgen um ein Land, das angeblich katastrophensüchtig den Tod hofiert, weil es das Leben nicht liebt


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