© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/05 03. Juni 2005

Die Schamgrenze wurde bereits überschritten
Von der Rechtfertigung der Teilung zu zwanghaftem Schuldbekenntnis: Die politische Wirkungsgeschichte des 8. Mai 1945
Oliver Busch

Angesichts des unter Christdemokraten üblichen geschichtspolitischen Wegduckens geht es im Mai-Heft der Politischen Meinung (Nr. 426/2005) richtig scharf zur Sache. In dieser Ausgabe des Organs der Konrad-Adenauer-Stiftung darf man die deutsche "Traditionsignoranz" beklagen und sich dafür auf den Präsidenten der Berliner Akademie der Künste berufen, Adolf Muschg, für den es unfaßbar sei, daß die Deutschen, deren "Kulturangebot an die Welt epochal zu nennen ein Understatement ist", ihr Geschichtsbewußtsein auf die NS-Zeit einschrumpfen.

Am weitesten wagt sich hier Henning Köhler vor, lange neben Arnulf Baring an der FU Berlin dafür zuständig, künftige Geschichtslehrer mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs vertraut zu machen: mit deutscher Teilung und Kaltem Krieg.

Der Emeritus Köhler stellt in seinem Beitrag zunächst außer Frage, daß Deutschland 1945 besetzt, nicht befreit wurde. Als "besiegtem Feindstaat" wurde dem Reich am 5. Juni 1945 in der "Berliner Erklärung" der Alliierten jede Staatlichkeit abgesprochen. Am Rande notiert Köhler hier, daß die "Welle von Vergewaltigung, Plünderung und Mord", die von den Sowjets ausging, jede weitere konstruktive Moskauer Deutschlandpolitik zerstörte: "Nach dem, was vorgefallen war, sahen die Deutschen in den Sowjets keine möglichen politischen Partner mehr." Bundeskanzler Schröder blieb es vorbehalten, am 9. Mai dort die "Befreiung" zu feiern, wo "vor sechzig Jahren Zigtausende deutscher Kriegsgefangener im Triumphzug durch Moskau getrieben wurden, von denen viele die Heimat nicht wiedersahen".

"Umdeutung" mit ungeahnten Radikalisierungsschüben

Dies ist für Köhler der Tiefpunkt einer mit der "Fischer-Kontroverse" 1960 einsetzenden "Umdeutung der Geschichte". Bis 1989 diente dieser "virtuelle Antifaschismus" dazu, das Reich als Fehlkonstruktion zu denunzieren. Der "Abschied vom Reich" verband sich mit starken Tendenzen, die Zweistaatlichkeit anzuerkennen. Am 8. Mai 1985 habe Weizsäckers Wort vom "Tag der Befreiung" diesen Zeitgeist auf den Punkt gebracht.

Mit dem Mauerfall hätte dies obsolet werden müssen. Statt dessen erfuhr diese "Umdeutung" ungeahnte Radikalisierungsschübe. "Auschwitz" sei zum neuen "Fixpunkt" des Schuldlamentos geworden. "Die schon zwanghafte Identifizierung der Deutschen mit den von ihrer Führerdiktatur begangenen Verbrechen, die Beflissenheit, deutsche Schuld als Kollektivschuld freiwillig zu übernehmen, bestimmt das Meinungsbild".

Die letzte Schamgrenze, von Weizsäcker noch beachtet ("Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern"), sei mit Schröders Moskauer Auftritt und mit dem allparteilichen "Fest der Demokratie" am Brandenburger Tor überschritten worden. Ob aber solche Exzesse der "Umdeutung" nicht bereits die krasse Ideologiehaltigkeit und Unglaubwürdigkeit dieses Geschichtsbildes offenbar machen, gibt Köhler raunend zu bedenken. "Die politisch korrekte Betriebsamkeit" könne das "Gegenteil" bewirken.


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