© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/05 10. Juni 2005

"Das Thema ist der Bevölkerung zu hoch"
Niederlande: EU-Verfassung bei Referendum klar abgelehnt / Unbehagen gegen Brüssel und Regierung
Jerker Spits

Nach der Volksabstimmung über die EU-Verfassung stellt die niederländische Regierung nun die Frage nach den Konsequenzen. Der christdemokratische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende (CDA) zeigte sich von der Ablehnung enttäuscht, kündigte aber an, das Ergebnis zu respektieren: Am 1. Juni hatten 61,6 Prozent der Bevölkerung gegen die EU-Verfassung votiert. Die Wahlbeteiligung lag mit 62,8 Prozent höher als erwartet. Das niederländische "Nee" fiel damit noch deutlicher aus als das französische "Non", denn in Frankreich hatten nur knapp 55 Prozent dagegen gestimmt.

Die drei bürgerlichen Regierungsparteien - CDA, rechtsliberale VVD und linksliberale D'66 - hatten wie die oppositionellen Sozialdemokraten (PvdA) und Grünen bis zuletzt eindringlich versucht, die Bevölkerung zu einem Ja zu bewegen (JF 22/05). Sie lösten aber durch ihre von der Bevölkerung als arrogant empfundene Haltung wachsende Irritation aus. So war Außenminister Ben Bot (CDA) der Ansicht, "alle Zyniker" sollten bei der Abstimmung besser zu Hause bleiben. Wirtschaftsminister Laurens-Jan Brinkhorst (D'66) meinte gar: "Das Thema ist der Bevölkerung zu hoch".

Nach der Abstimmung gab Ministerpräsident Balkenende an, das Ergebnis ungeachtet des nicht bindenden Charakters der Volksabstimmung zu "respektieren". Das Unbehagen gegenüber Brüssel nehme er ernst. Das Parlament werde daher den Vertrag nicht wie geplant ratifizieren. Zudem werde er die kritische Position seiner Landsleute beim Mitte Juni bevorstehenden EU-Gipfel in Luxemburg vertreten. Er werde das hohe Tempo der EU-Erweiterung, die Netto-Zahlungen (Den Haag zahlt den höchsten Pro-Kopf-Beitrag in der EU an Brüssel) und die Sorge der Bürger um die niederländische Identität mit seinen europäischen Kollegen besprechen. Auch Oppositionsführer Wouter Bos (PvdA) versprach, der Unzufriedenheit Rechnung zu tragen. Die grüne Fraktionsvorsitzende Femke Halsema kündigte an, künftig mehr Volksabstimmungen organisieren zu wollen - etwa über den möglichen EU-Beitritt der Türkei.

Die meisten niederländischen Medien hatten sogar noch am Tag der Abstimmung auf die Vorteile der EU-Verfassung hingewiesen. Argumente gegen die EU-Verfassung wurden in vielen Kommentaren als "unsachlich" oder "populistisch" abgetan. So versuchte die linke Tageszeitung De Volkskrant ihren Lesern deutlich zu machen, daß es vor allem um eine - bessere und demokratischere - "Aufteilung der Zuständigkeiten" gehe. Der Euro und die EU-Erweiterung stünden dabei gar nicht zur Diskussion. Im Fernsehen bekamen Befürworter der EU-Verfassung - auch weil sie meist aus den großen Parteien stammen - viel mehr Einladungen als die Kritiker der Verfassung.

Nur die kleineren rechten wie linken Parteien im Parlament traten als EU-Kritiker auf. Nach dem Ergebnis gaben sie sich denn auch betont stolz. So sprach der Ex-VVD und nun unabhängige Abgeordnete Geert Wilders von einem "Fest für die Niederlande". Die Bürger hätten Mut gezeigt und sich nicht von den Drohungen der etablierten Parteien beängstigen lassen. Es werde keinen "europäischen Superstaat" geben.

Sozialistischer Hinterbänkler wurde zum Medienstar

Harry van Bommel, bislang einfacher Parlamentsabgeordneter der Sozialistischen Partei (SP), ist nach seiner Nein-Kampagne zu einem der bekanntesten niederländischen Politiker aufgestiegen. Der 42jährige vertrat während der Kampagne SP-Fraktionschef Jan Marijnissen, der erkrankt war. Die Unterstützung für seine Linksaußenpartei, die im EU-Parlament mit der PDS eine Fraktion bildet, soll mit zwölf Prozent nun fast doppelt so hoch sein wie zuvor.

Auch die christlich-konservative Christenunie zeigte sich erfreut über das Ergebnis. Die Kleinpartei, die sich auf eine calvinistische Interpretation der Bibel stützt, ist nach Mitgliederzahl die viertgrößte der Niederlande und bislang mit nur drei Sitzen im Parlament vertreten. Das Auftreten ihres Fraktionschefs André Rouvoet, der klar, aber sachlich gegen die EU-Verfassung argumentierte, wurde von vielen Niederländern als überzeugend empfunden. Rouvoet hatte wiederholt betont, durch die EU-Verfassung gehe zu viel Macht an Brüssel. Nach dem Ergebnis betonte er, die Niederländer seien nicht gegen Europa, sondern gegen die heutige EU-Politik.

Lange Zeit galten die Niederlande als Garant europäischer Stabilität und als Verfechter der Integration. Doch durch die Unzufriedenheit über das hohe Tempo der europäischen Integration, der hohe Kostenbeitrag der Niederlande, der drohende Identitätsverlust des Landes und nicht zuletzt die Angst vor der Dominanz großer Staaten wie Deutschland und Frankreich schwoll der Strom des Unbehagens an. Auch durch den als zu teuer empfundenen Euro und die Abneigung gegen der Brüsseler Demokratie machte sich eine ausgesprochene Europaskepsis breit.

Zudem haben die Bürger schon seit langem das Gefühl, daß die Politik den Kontakt mit der Bevölkerung verloren hat. Die etablierten niederländischen Parteien scheinen die Warnung des "Aufstandes" im Jahre 2002, als Pim Fortuyns LPF aus dem Stand zweitstärkste Kraft im Parlament wurde, nicht ausreichend wahrgenommen zu haben.

Die Gegner - Christenunion, SP und die als Ein-Mann-Fraktion operierende Gruppe Wilders - gehören noch zu den kleinsten Parteien des Landes. Doch die Kluft zwischen Bürger und Politikern, so empfinden es viele Niederländer, ist in den letzten Jahren nur noch gewachsen. Im Parlament waren 90 Prozent der Abgeordneten für die EU-Verfassung. Der Eindruck, die Politik stehe mit dem Rücken zur Gesellschaft, hat sich verfestigt.

Der VVD-Fraktionschef Jozias van Aartsen fegte diese Kritik aber vom Tisch: "Achtzehn Stunden nach dem Ergebnis akzeptiert das Parlament die Stimme des Bürgers. Welche Kluft soll denn zwischen Bürger und Politik bestehen?" Zuvor hatte Van Aartsen in einer Fernsehdebatte mit Blick auf Frankreich behauptet, daß nur "Nationalisten und Kommunisten" gegen die Verfassung gestimmt hätten. Aus der Wahlanalyse ergab sich aber, daß mehr als die Hälfte seiner eigenen rechtsliberalen Anhängerschaft bei der Volksabstimmung dagegen gestimmt hat.

Die Erkenntnis, daß das Mißtrauen der Bürger sich gegen abgehobene Entscheidungen und eine Arroganz der Macht richtet, ist einigen Politikern in Den Haag offenbar noch immer nicht gekommen.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen