© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/05 24. Juni 2005

Europa der Vaterländer
Weder Freihandelszone noch soziale Wärmestube: Eine Neugründung ist nötig
Peter Lattas

Jean-Claude Juncker ist nicht der einzige, dessen Europabegeisterung dieser Tage einen Knacks bekommen hat. Sein waghalsiger Versuch, die Verfassungs- und die Finanzkrise auf einen Schlag zu lösen, indem er sie miteinander verknüpfte, hat dem luxemburgischen Premier einen spektakulären Fehlschlag und Europa eine veritable Identitätskrise eingebracht.

Die Schuldigen waren für die Verlierer, den französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac und den deutschen Regierungschef Schröder, schnell ausgemacht: An der "völlig uneinsichtigen" Haltung der Briten und Niederländer sei der Gipfel gescheitert, ließ der Kanzler in für europäische Verhältnisse ungewohnter Deutlichkeit verlauten. In Osteuropa, wo Tony Blairs Kritik an der Subventionsbürokratie auf mehr Verständnis stößt, sieht man im Strukturbewahrer Chirac den Haupttäter. Nicht das Scheitern der Verhandlungen um die Finanzplanung von 2007 bis 2013 sei indes das Problem, sondern die "beunruhigende" Atmosphäre, die neuerdings in der EU herrsche, hat der polnische Premier Marek Belka ganz richtig analysiert: In der größer gewordenen Familie zofft man sich, daß die Fetzen fliegen.

In einem Punkt hat der wütend gescholtene Briten-Premier allerdings vollkommen recht: So, wie sie derzeit läuft, kann die europäische Umverteilungsmaschinerie nicht länger gutgehen. Statt die aufsässigen Briten und Niederländer zu kritisieren, könnte sich der deutsche Bundeskanzler auch fragen lassen, warum er als Repräsentant des größten Nettozahlers nicht selbst auf einen Beitragsrabatt pocht, statt weiter die französische Agrarindustrie aus der leeren deutschen Staatskasse zu subventionieren. Es kann kaum Zweck der EU sein, einen immer größeren Anteil des von den Mitgliedstaaten erwirtschafteten Geldes in einer kaum kontrollierenbaren Subventionsbürokratie für Agrarpolitik und Regionalförderung auszugeben. Diese Aufgaben wären, nimmt man das Prinzip der "Subsidiarität" ernst, in der Tat besser in nationaler Verantwortung aufgehoben.

Je größer und je divergenter der Kreis der EU-Mitglieder wird, desto weniger können unterschiedlicher Lebensverhältnisse zentral ausgeglichen werden. Die britische Verhandlungsführung auf dem Brüsseler Gipfel bestätigt den Verdacht, daß die Regierungen des Vereinten Königreichs schon deshalb jeder EU-Erweiterung stets freudig zugestimmt haben, weil die Überdehnung des Kreises der Clubmitglieder zugleich den Keim des Scheiterns der politischen und sozialen Integration in sich trägt, die, von Frankreich und Deutschland am eifrigsten betrieben, von jeher das spezielle Mißtrauen der Briten weckte.

In der Vergangenheit konnten solche Konflikte stets dadurch überdeckt werden, daß der deutsche Bundeskanzler im kritischen Moment das Scheckbuch zückte und alle finanziellen Sonderwünsche im Namen der europäischen Idee auf Kosten des deutschen Steuerzahlers erfüllte. Struktur- und Kohäsionsfonds und diverse weitere Fördertöpfe verdanken dieser Politik ihre Entstehung. Es sei dahingestellt, ob Angela Merkel das Fehlen der früheren Kohlschen Freigebigkeit meinte, als sie Schröder die Mitschuld am Scheitern des Gipfels gab.

Die fetten Jahre sind jedenfalls vorbei, und die EU muß die entscheidende Frage beantworten, wozu sie überhaupt da ist. Das Scheitern des Verfassungsvertrages und das spektakuläre Platzen der Brüsseler Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs sind logische Folgen des letztlich unüberbrückbaren Widerspruchs zwischen Erweiterung und Vertiefung der Union. Das Projekt, die EU auf immer mehr und immer unterschiedlichere Länder auszudehnen und dabei zugleich die soziale und administrative Gleichschaltung voranzutreiben, darf als mißlungen gelten: zu disparat die Voraussetzungen, zu groß die Widerstände der europäischen Völker.

Jubel hierüber wäre freilich verfrüht, solange nicht die Frage beantwortet ist, was dieses Projekt ersetzen soll. Eine lockere, liberale Freihandelszone, sagen die Briten - gerne auch unter Einschluß der Türkei. Blair und seine Vordenker wollen der "kommenden Generation" der europäischen Staatslenker diese Vision mit dem Argument schmackhaft machen, so könne man im globalen Wettbewerb bestehen und "Globalisierung mit sozialer Gerechtigkeit" versöhnen. Den Strategen im Weißen Haus, die Freihandel überall, bloß nicht im eigenen Land propagieren, wäre diese Europa-Version zweifellos die liebste, und für die Europäer wäre sie ein Desaster, das sie als eigenständigen Faktor im globalen Mächtekonzert weitgehend ausschalten würde.

Als Zukunftsmodell für den europäischen Kontinent taugt die Blairsche Freihandelszone so wenig wie die soziale Wärmestube à la Schröder und Chirac - unverbindlich die eine, unbezahlbar die andere. Beide ignorieren die außenpolitische und geostrategische Dimension Europas als Gegengewicht zum amerikanischen Unilateralismus. Mit neuerlichem Herumschrauben an den verkorksten bestehenden Strukturen und Weiterwursteln mit faulen Kompromissen ist es nicht getan. Europa muß neugegründet werden: als Bund souveräner Nationalstaaten, die sich in außen-, handels- und sicherheitspolitischen Fragen eng abstimmen und ihren Mitgliederkreis so beschränken, daß sie nicht von Wohlstandsgefälle und sozialen Verwerfungen gelähmt werden. Dieses Zukunftskonzept scheinen selbst seine französischen Erfinder weithin vergessen zu haben: das Europa der Vaterländer.


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