© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/05 24. Juni 2005

Halbherzigkeit als roter Faden
Nordrhein-Westfalen: Rüttgers kündigt neue Bildungspolitik an / Bis 2010 kein verfassungsgemäßer Haushalt / Schwarz-gelber Testlauf für Berlin
Hans Christians

Das Programm mit dem klangvollen Namen "Bündnis für Nordrhein-Westfalen" ist 64 Seiten lang. Doch optimistische Botschaften könnten die beiden Hauptakteure - der designierte Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) und sein liberaler Koalitionspartner Andreas Pinkwart von der FDP - nicht vermitteln. "Jeder muß Opfer bringen", sagte Rüttgers und malte bei der Vorstellung der Koalitionsvereinbarung ein düsteres Bild von Gegenwart und Zukunft. Der Vorgängerregierung warf er sogar eine "unmoralische" Finanzpolitik vor. Das strukturelle Defizit im Haushalt beträgt demnach rund 6,5 Milliarden Euro. Bis 2010 könne es in NRW keinen verfassungsgemäßen Haushalt mehr geben, da die Neuverschuldung aufgrund der finanziellen Hinterlassenschaften der Vorgängerregierung Jahr für Jahr höher ausfallen werde als die Summe der Investitionen. "Das widerstrebt mir zutiefst", sagte Rüttgers. Alle Programme, alle Fördertöpfe müßten um bis zu 20 Prozent gekürzt werden, so Rüttgers. Für den Rest des Jahres wird eine Haushaltssperre verhängt.

Auffälligster Punkt in der Vereinbarung ist zweifelsohne der geplante Stopp der Steinkohle-Subventionen. Erstmals hat sich eine Regierung in Nordrhein-Westfalen dazu durchgerungen, das Ende des Bergbaus offiziell ins Regierungsprogramm aufzunehmen. Doch schon diese Entscheidung verdeutlicht die Halbherzigkeit, die sich wie ein roter Faden durch den Auftritt von Rüttgers und Pinkwart zog. Während die FDP während des Wahlkampfes lautstark mit dem Sofortausstieg warb, versicherte der neue Ministerpräsident den Bergleuten, daß es keine betriebsbedingten Kündigungen geben werde.

Auch von einem weiteren sozialdemokratischen Lieblingskind wollen die neuen Machthaber in NRW Abschied nehmen: Die Landesanteile an der WestLB, die in den vergangenen Jahren für manch einen roten Eklat gut war, sollen verkauft werden, wie zumindest inoffiziell bestätigt wurde.

Keine Frage: Schwarz-Gelb befindet sich in Nordrhein-Westfalen in einer nicht ungefährlichen Lage. Einerseits erwartet die Bevölkerungsmehrheit, die dem bürgerlichen Lage im Mai eine satte Mehrheit bescherte, einen klaren Kurswechsel. Andererseits dürfte es Rüttgers schwerfallen, sich deutlich von seinem sozialdemokratischen Vorgänger Peer Steinbrück abzugrenzen, galt dieser doch als bürgerlichster aller SPD-Ministerpräsidenten. So kann es nicht verwundern, daß sich die nach jahrzehntelanger Regierungszeit nun auf die Oppositionsbank verwiesenen SPD-Parlamentarier bereits genüßlich zurücklehnen und die neue Koalitionsvereinbarung als "Konglomerat der Grausamkeiten" bezeichnen. "Was wir machen, wird Signalwirkung für den Bund haben", kündigte FDP-Landeschef Pinkwart an, der im neuen Kabinett die klangvolle Bezeichnung "Innovationsminister" tragen soll.

Zusammensetzung der Regierung weiter offen

Die Zusammensetzung der Landesregierung bleibt unterdessen weiter offen. Im Koalitionsvertrag werden elf Geschäftsbereiche genannt. Dazu gehört neben den klassischen Ressorts auch der Bereich Generationen - darin sollen neben den Themenfeldern Kinder, Jugend, Senioren und Familie speziell Belange der demographischen Veränderung gebündelt werden. Fest steht bisher nur, daß Pinkwart das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Technologie übernimmt, FDP-Fraktionschef Ingo Wolf das Innenressort. Pinkwart soll zudem Vize-Ministerpräsident werden. Die CDU-Personalien will Rüttgers erst nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten bekanntgeben. Eingeweihte berichten, Rüttgers fürchte Gegenstimmen von "Zukurzgekommenen", würde er sein Kabinett schon vor der Wahl bekanntgeben.

Überhaupt ist Rüttgers' Verhalten von Taktik geprägt. Er hat die Menschen im bevölkerungsreichsten Bundesland auf eine Roßkur eingestimmt und doch eher "weiche Themen" in den Vordergrund gestellt. Rüttgers kündigte unter anderem ein "völlig neues Bildungssystem" an. So sollten etwa die Schulen sehr viel mehr Freiheit bei der Wahl der Schulleiter erhalten. Diese würden künftig von der Schulkonferenz für acht Jahre gewählt und nicht mehr vom Staat ernannt werden, sagte der designierte Ministerpräsident. "Wir werden einen großen Verwaltungsreform-Prozeß einleiten, der über mehrere Jahre geht, und einen Haushaltskonsolidierungsprozeß haben", sagte Rüttgers während des Landesparteitags am vergangenen Wochenende in Düsseldorf, auf dem der Koalitionsvertrag abgesegnet wurde.

Wo die neue Regierung allerdings konkret sparen will, ließen die Wahlsieger allerdings offen. Rüttgers beließ es bei der Ankündigung von "einschneidenden Maßnahmen". "Wenn wir den Leuten sagen, was wir vorhaben, könnten sie uns in Scharen davonlaufen", raunte ein Delegierter hinter vorgehaltener Hand. Klar ist: "NRW ist ein Sanierungsfall", wie es der designierte Finanzminister Helmut Linssen (CDU) treffend formulierte. Daran wird auch die neue Mehrheit nichts ändern können.

Beginnen soll die Arbeit allerdings erst nach einem möglichen schwarz-gelben Wahlsieg bei den vorgezogenen Bundestagswahlen. Rund 40 Prozent benötigt die Union in Nordrhein-Westfalen, um mit guten Chancen auf die Zielgerade einzubiegen. Also muß Rüttgers alles daransetzen, die unbequemen Wahrheiten bis nach der Bundestagswahl zurückzuhalten.

Rüttgers rief dementsprechend seinen Landesverband dazu auf, Angela Merkel als Kanzlerkandidatin der Union im bevorstehenden Bundestagswahlkampf zu unterstützen. Der Wahlkampf an Rhein und Ruhr sei eine große Teamleistung gewesen, an der auch Merkel und CSU-Chef Edmund Stoiber beteiligt gewesen seien. Merkel habe nun Anspruch darauf, daß der Landesverband im Gegenzug ihr helfe. "Bis zum Wahlabend müssen wir alle Kräfte bündeln und den Menschen ein optimistisches Bild zeichnen", rief Rüttgers. Danach könnte es allerdings das eine oder andere böse Erwachen geben.


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