© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/05 24. Juni 2005

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Mitverantwortung
Karl Heinzen

Der Deutsche Bundestag hat der Türkei schwere Mängel in der Gedenkpraxis vorgeworfen. Der EU-Kandidat verweigere, so die von allen Fraktionen gemeinsam beschlossene Rüge, eine Aufarbeitung der während des Ersten Weltkrieges an Armeniern begangenen Massaker und stelle diese verharmlosend dar. Die für Mitgliedstaaten der Union gebotenen Standards einer europäischen Kultur der Erinnerung würden nicht erreicht.

Erste Reaktionen aus Ankara führen vor Augen, daß die Kritik einen wunden Punkt des türkischen Selbstverständnisses berührt. Anstatt sich für die Hilfestellung bei der überfälligen Auseinandersetzung mit den Schattenseiten der eigenen Geschichte zu bedanken, diffamierte Außenminister Gül die Entschließung der deutschen Parlamentarier als "verantwortungslos, bestürzend und verletzend". In seiner Rage würdigte er nicht, daß der Bundestag keineswegs die türkische Staatsführung von heute für die Verfehlungen ihrer Vorgängerin von einst verantwortlich machen will. Auch einen Vergleich zu der weniger brachialen, aber mit vergleichbarer Zielsetzung betriebenen Kurdenpolitik der jüngeren Zeit zogen die Abgeordneten - vielleicht sogar bewußt - nicht.

Den Vorwurf, sich zu einem Thema, das ihn eher wenig angehe, geäußert und damit auch noch für diplomatische Irritationen gesorgt zu haben, braucht sich der Bundestag jedenfalls nicht gefallen zu lassen. Gerade in Zeiten, in denen Parlamentarier Weichenstellungen für die Zukunft ohne Rücksicht auf ihr Gewissen mit zu tragen haben, sollten sie daran erinnern dürfen, daß ihnen moralische Maßstäbe immer noch nicht fremd sind. Die Geschichtspolitik bietet das Terrain, die Opfer von gestern mit glaubwürdiger Anteilnahme zu würdigen, ohne es an der nötigen Härte gegenüber jenen von heute und morgen fehlen lassen zu müssen.

Natürlich ist die Versuchung für den Bundestag groß, lieber unablässig ein Opfergedenken weltweit einzufordern, statt unpopuläre Reformen im eigenen Land anzugehen. Dennoch ist damit nicht zu rechnen: Die Parlamentarier in Berlin hätten wohl zu den Vorfällen im Osmanischen Reich geschwiegen, wäre dem Deutschen Reich nicht die Mitschuld nachzuweisen, weggesehen zu haben. Da diese Mitverantwortung nun anerkannt ist, sollten sie im nächsten Schritt einen Kompromiß anbieten, der wieder für Entspannung in den deutsch-türkischen Beziehungen sorgt: Wenn Ankara kein Interesse zeigt, ein Mahnmal für die Armenier zu errichten, könnte sich ja Berlin als Standort für ein solches ins Gespräch bringen.


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