© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/05 24. Juni 2005

Saniert für den Abriß
Aufbau Ost: Viele Mittel in Infrastrukturmaßnahmen und in den Wohnungsbau sind völlig am Bedarf einer schrumpfenden Bevölkerung vorbei investiert worden
Paul Leonhard

Die Experten haben sich mit ihren Prognosen vertan. Sachsens Bevölkerung altert schneller als erwartet, da nur wenige Kinder geboren werden und die jungen Menschen mangels Arbeit wegziehen. Statt wie einst errechnet fünf Millionen wird der Freistaat im Jahr 2020 gerade noch 3,7 Millionen Einwohner haben, 600.000 Menschen weniger als heute. Dazu kommt die Binnenwanderung. Zuwachs registrieren lediglich noch die drei großen Städte Dresden, Leipzig und Chemnitz und die um sie liegenden Speckgürtel.

Die von der Staatsregierung anderthalb Jahrzehnte lang betriebene Leuchtturmpolitik zeigt ihre Auswirkungen. Wer Arbeit sucht und nicht nach Westdeutschland gehen möchte, hat lediglich in den drei Großstädten Chancen. Hier haben sich vor allem Automobilhersteller wie Volkswagen, BMW und Porsche mit ihrer Zulieferindustrie angesiedelt. In der Landeshauptstadt und in Freiberg kommt dazu noch die mit teuren Staatszuschüssen erkaufte Chip-Industrie. Die Zukunft von Randregionen wie der Oberlausitz und dem Erzgebirge steht dagegen in den Sternen. Ähnlich ist die Situation in Sachsen-Anhalt und Thüringen.

Viele Kommunen sind hoffnungslos überschuldet

Bereits im Wendejahr 1990 haben Bauexperten über die Zukunft der maroden ostdeutschen Innenstädte und der lieblos und billig an den Stadträndern hochgezogenen Plattenbaugebiete nachgedacht. Inzwischen flossen Hunderte Millionen Euro in die Sanierung des Wohnungsmarktes. Gefördert wurden sowohl Rück- und Umbau sowie die Sanierung von Plattenbauten als auch von Innenstadthäusern und der Neubau von Eigenheimen. Angesichts der zu DDR-Zeiten herrschenden Wohnungsnot und der prognostizierten "blühenden Landschaften" wurden jene Stimmen überhört, die mahnten, Maß zu halten. Zudem brach auch bei den Bürgermeistern und Gemeinderäten ein Bauboom aus. Nahezu jede Gemeinde investierte in den Straßenbau, Ver- und Entsorgung und eigene Gewerbegebiete. Wer noch über einen in der Nähe gelegenen ehemaligen Militärflughafen der NVA oder der russischen Streitkräfte in Deutschland verfügte, sah sich bereits künftig als internationale Luft-Drehscheibe des Fracht- oder Personenverkehrs. Zumal die Politiker aller Ebenen versprachen: Ist erst die Infrastruktur auf modernstem Niveau, kommen auch die Investoren und es entstehen neue Arbeitsplätze.

Das Erwachen aus diesem staatlich geförderten Kirchturmdenken kommt vielerorts erst jetzt: Die meisten Kommunen sind hoffnungslos überschuldet. Die von den Parlamenten beschlossenen Haushalte werden immer häufiger von den Aufsichtsbehörden beanstandet. In den Haushaltskonsolidierungskonzepten trennen sich die Gemeinden vom letzten Tafelsilber. Die Regierungen in Dresden, Potsdam oder Magdeburg versuchten zwar mit Prestigeprojekten den Menschen Mut zu machen. Aber letztlich versickerten nicht nur im märkischen Sand Millionen Euro in aussichtslosen Vorhaben wie Chip-Fabriken, Cargo-Lifter und Lausitzring.

Die Spitze des Eisberges der Geldverschwendung läßt sich im alljährlichen Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler nachlesen. So erhielt Dresden im vergangenen Jahr den "Schleudersachsen" - den Negativpreis vom sächsischen Bund der Steuerzahler -, weil es seit 1995 allein 13 Millionen Euro mit Planungen für die sogenannte Waldschlößchenbrücke verpulvert hat: ein Vorhaben, das jetzt nach Bürgerprotesten auf Eis liegt. Als Gesamtkosten für die Elbbrücke wurden 150 Millionen Euro veranschlagt.

Zum Vergleich: Der in den vergangenen Jahren erfolgte Neubau von vier Elbbrücken in Riesa, Torgau, Pirna und Meißen kostete insgesamt lediglich rund 74 Millionen Euro. Auf der ostsächsischen Eisenbahnstrecke von Bautzen nach Wilthen wurde im Jahr 2002 für 750.000 Euro eine neue Eisenbahnbrücke gebaut, obwohl die alte Stahlbrücke noch funktionstüchtig und sanierungsfähig war und überdies die Strecke im Dezember 2004 aufgrund zu geringer Auslastung stillgelegt. Den Personenverkehr übernehmen jetzt Busse. Im aktuellen Schwarzbuch wurde außerdem die Neugestaltung vor dem Hauptbahnhof von Chemnitz kritisiert. Hier wurden, ohne preiswerte Alternativen zu prüfen, teure Spezialplatten verlegt. Schaden für den Steuerzahler: 100.000 Euro. 20.000 Euro, davon 6.000 für Feuerwerk, ließ sich die Stadtverwaltung von Riesa 2003 die Abschiedsfeier ihres Oberbürgermeisters Wolfram Köhler (CDU) kosten, der von der Staatsregierung auf den neu geschaffenen Posten eines Olympia-Staatssekretärs gehoben wurde.

Kritisiert wurde auch der Umgang mit Millionen Fördermitteln bei der Sanierung von Häusern. In Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern) wurden vier Millionen Euro für den Neubau der Landeszentralbank ausgegeben, der aufgrund der Neuordnung zur Bundesbank-Struktur kaum über den ersten Spatenstich hinauskam. Am niederschlesischen Grenzübergang Görlitz-Ludwigsdorf hielt das Bundesverkehrsministerium lange Zeit am Bau eines Vorstauplatzes fest, obwohl mit dem Wegfall der Zollkontrollen an der Grenze keine Staus mehr vorhanden waren. Erst nach Protesten des Bundes der Steuerzahler wurde das Bauvorhaben mit einem Volumen von einer Million Euro gestoppt.

Abschied von liebgewonnener Infrastruktur verkündet

Wohlgemerkt werden auch im Westen Milliarden aus dem Staatshaushalt fehlinvestiert, aber der ostdeutsche Run auf Spaßbäder, überdimensionierte Kläranlagen und todsanierte Innenstädte wird oft aus Solidarpaktmitteln finanziert. Diese dürften künftig nur noch für Investitionen verwendet werden, die Wachstum und Beschäftigung fördern, forderte unlängst der Bundestagsabgeordnete Peter Hettlich (Bündnis 90/Die Grünen). Sämtliche Investitionsvorhaben sollten überprüft und frei werdende Mittel zur Förderung der gewerblichen Wirtschaft und der Forschung eingesetzt werden. Auch aus Sicht des Präsidenten des Bundesverbandes der Steuerzahler, Karl-Heinz Däke, muß die Förderung Mitteldeutschlands neu ausgerichtet werden. Die ab diesem Jahr bereitstehenden Mittel aus dem Solidarpakt II sollten ausschließlich für die vorgesehenen Zwecke eingesetzt werden.

Inzwischen hat man auch in den mitteldeutschen Länderregierungen begriffen, daß man anderthalb Jahrzehnte weit über die Verhältnisse gelebt hat. Der ehrgeizige Plan, in den neuen Ländern innerhalb einer Generation westdeutsche Lebensverhältnisse schaffen zu können, muß beerdigt werden. Jetzt wird an Rückbau gedacht. Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) kündet bereits offiziell den "Abschied von liebgewonnener Infrastruktur" an: "Wir werden alle dauerhaft weniger Geld haben." Fördergelder sollen nur noch in Projekte gesteckt werden, die nachhaltig sind und deren Folgekosten in den Haushalten auch untersetzt. "Eine schrumpfende Bevölkerung", so Milbradt, könne sich nur noch eine Minimalausstattung leisten. Das gilt für den Straßenbau ebenso wie für Wohnungen, Kultureinrichtungen, Kanalisation und Trinkwasserversorgung, aber auch für die aufgeblasenen Verwaltungsapparate auf allen Ebenen.

Allerdings ist der Rückbau Ost noch schwieriger zu gestalten als der schon nur in Ansätzen geglückte Aufbau Ost. Zwar können Kultur- und Freizeiteinrichtungen geschlossen, Nahverkehrslinien ausgedünnt oder stillgelegt werden, aber es fällt schwer, die Menschen aus den Stadtrandsiedlungen in die Innenstädte umzusiedeln. Der von der Politik vorgegebene Schrumpfungsprozeß der Städte von außen nach innen ist zwar sicher notwendig und in der Theorie auch nachvollziehbar, aber eben nur in sehr großen Zeiträumen zu realisieren. Zwar sind die denkmalgeschützten Innenstädte in den neuen Ländern in den vergangenen Jahren oft liebevoll saniert worden, aber damit auch die Mieten gestiegen. Letzteres war zwar vorauszusehen, nicht aber, daß der Aufschwung Ost nicht greift und in vielen Regionen 25 Prozent der Erwerbsfähigen ohne selbsterwirtschaftetes Einkommen ihr Leben bestreiten.

Gingen die meisten der oft aus Westdeutschland stammenden Stadtplaner - die bei ihren Prognosen die Sozialwohnungsbauten westlicher Städte mit ihrer entsprechenden Bewohnerklientel vor Augen hatten - in den neunziger Jahren davon aus, daß nach der Sanierung und Modernisierung der meist seit 1945 vernachlässigten, aber oft in ihrer historischen Substanz vollständig erhaltenen historischen Innenstädte eine Abwanderung aus den DDR-Plattenbauten einsetzen würde, so sahen sie sich darin nur teilweise bestätigt. Zwar wurden die auf Standard gebrachten Innenstadtwohnungen bezogen, aber vor allem von Menschen, die aus anderen Regionen zuzogen.

Dazu kamen jene, die in den im letzten DDR-Jahrzehnt errichteten Plattenbau-Einraumwohnungen lebten. Aus den ab Mitte der siebziger Jahre errichteten Blöcken mit Drei- und Vierraumwohnungen mit relativ großzügigen Balkons wollen die Menschen jedoch nicht fortziehen. Hausgemeinschaften sind hier zusammengewachsen und die Wohnungen nach dem Fortzug der Kinder von bequemer und vor allem bezahlbarer Größe. Überdies sind die meisten Neubauviertel gut mit Bus und Bahn an die Innenstädte angeschlossen, weisen ausreichend Einkaufs- und Parkmöglichkeiten auf.

Dieses Beharrungsvermögen wird durch die jüngsten Entwicklungen noch verstärkt. Die weiter zunehmende Angst um den Job und die einschneidenden Auswirkungen von Hartz IV dürften nur noch wenige außerhalb der großen Städte veranlassen, sich beispielsweise in einem der großzügigen, teuer sanierten Gründer- oder Jugendzeithäuser mit Wohnungsgrößen zwischen 120 und 250 Quadratmetern und 3,5 Meter hohen Räumen einzumieten.

Vollsanierte Wohnungen werden wieder abgerissen

Hier beginnt genau das Dilemma für die Wohnungs-Großeigentümer. Meistens handelt es sich um die durch Schuldumschreibungen aus DDR-Zeiten schwer belasteten kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbaugesellschaften. Diese wurden zur Entschuldung erst gezwungen, Wohnungen aus dem Bestand abzustoßen und jetzt rückzubauen. Immerhin liegt die Abrißförderung bei sechzig Euro pro Quadratmeter. Bisher wurden etwa 25.000 leere Wohnungen "vom Markt genommen", wie die Politik den Abriß umschreibt. Insgesamt wird der Leerstand in Sachsen auf 420.000 Wohnungen geschätzt, bis 2013 sollen davon 250.000 Wohnungen verschwunden sein. Im bis 2009 gültigen Stadtumbauprogramm Ost sind für den Abriß jährlich etwa 160 Millionen Euro eingestellt. Für 2004 wurde nur ein Teil dieser Gelder abgerufen.

Die Stadt- und Gemeinderäte haben für die meist als kommunale Tochtergesellschaften ausgegründeten Wohnungsbaugesellschaften die Vorgabe gemacht, entsprechend der Rückbauförderprogramme von Bund und Ländern Plattenbauten am Stadtrand abzureißen. Da diese aber für die Vermieter aufgrund der hohen Auslastung lukrativ sind, bevorzugen die Gesellschaften den innerstädtischen Abriß. Dabei kommt es vor, daß nicht nur leerstehende Denkmale dem Abriß zum Opfer fallen, sondern auch erst vor wenigen Jahren sanierte Gebäude. In Thüringen schätzte der Bund der Steuerzahler, daß allein in Erfurt 1.500 zuvor teil- oder vollsanierte Wohnungen abgerissen werden sollen. In Sachsen wirkt sich negativ aus, daß die Förderpolitik für den Umbau von Plattenbauten (Sechsgeschosser wurden auf drei Geschosse zurückgebaut und die Grundrisse verändert, wie im Neubaugebiet Dresden-Gorbitz erfolgreich demonstriert) denselben Fördersatz vorsieht wie für den vollständigen Abriß.

Der Schrumpfungsprozeß im Osten ist allerdings nur ein Vorgeschmack auf das, was dem Westen auch bevorsteht. Spätestens 2030 wird das zur Zeit vor allem mitteldeutsche Phänomen auch Westdeutschland erreichen. Allerdings stehen dem aktuellen Abrißbedarf von 1,3 Millionen Wohnungen im Osten lediglich geschätzte 200.000 in den Altbundesländern gegenüber. Damit es dort besser gemeistert wird, soll im niederschlesischen Görlitz jetzt ein Institut für Demographiefolgenabschätzung den Schrumpfungsprozeß der geteilten Grenzstadt begleiten. Auch für den Umgang mit auszugsunwilligen Mietern hat die Politik bereits eine Lösung gefunden. Gemäß einem Bundesratsvorschlag soll eine Abrißkündigung ins Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen werden.

Foto: Sanierte Plattenbauten in Dresden mit bunter Fassade: Durch Abwanderung und Geburtenrückgang sind 1,3 Millionen Wohnungen überflüssig

 

Stichwort: Bevölkerungsrückgang in den neuen Ländern

Seit 1990 ist die Bevölkerung der neuen Bundesländer und Ost-Berlins von 16, 111 Millionen bis zum Jahr 2000 auf 15,169 Millionen zurückgegangen. 2001 wohnten in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Sachsen 13,789 Millionen. Innerhalb von nur zwei Jahren ist die Zahl nochmals um die Bevölkerungszahl von fast drei Großstädten auf 13,524 Millionen zurückgegangen. Die Geburtenrate in den neuen Bundesländern liegt mit 1,1 Kindern pro Frau auf dem weltweit niedrigsten Stand (Statistisches Bundesamt). Da die Hauptgruppe der Abwanderer aus jungen und flexiblen Leistungsträgern besteht, von denen Frauen zwischen 20 und 35 Jahren den größten Anteil stellen, wird sich die demographische Talfahrt noch beschleunigen.

Falls diese Entwicklung anhalten sollte, prognostiziert das Leipziger Institut für Marktforschung bis 2020 eine weitere Abwanderung von etwa einer Millionen Menschen. Von den dann 12,971 Millionen Einwohnern werden etwa zwei Drittel im Rentenalter sein.


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