© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/05 01. Juli 2005

"Opfer zweiter Klasse"
Carl-Wolfgang Holzapfel, Vorsitzender der Vereinigung 17. Juni 1953, über seinen Hungerstreik vor dem Bundesfinanzministerium
Moritz Schwarz

Herr Holzapfel, kaum sind am Montag vergangener Woche die Gedenktafeln zum 17. Juni 1953 am Bundesfinanzministerium entfernt worden, wurde bekannt, daß am Dienstag nächster Woche die Mauerkreuze zum Gedenken an die 1.067 Toten der Mauer abgeräumt werden sollen.

Holzapfel: Dieser instinktlose Umgang mit der Geschichte und mit den Gefühlen der Opfer beziehungsweise ihrer Angehörigen stellt schon jeweils für sich genommen einen Skandal dar. Doch zusammengenommen handelt es sich um einen regelrechten "Angriff" auf die Erinnerung an die Verbrechen des Kommunismus in Deutschland.

Die zeitliche Nähe ist allerdings ein Zufall.

Holzapfel: Formaljuristisch stimmt das, kein Zweifel. Das macht es aber nicht besser. Dieses "Abräumen nach Terminlage" wäre im Falle von NS-Opfer-Gedenkstätten nicht "gesellschaftsfähig". Warum empfinden wir das im Fall des SED-Gedenkens nicht ebenso? Da stimmt doch etwas nicht.

Sie meinen, "alle Opfer sind gleich, aber manche sind gleicher als andere"?

Holzapfel: Ganz offensichtlich leben wir in einer Zweiklassenopfer-Gesellschaft. Selbst die DDR hat 1963/64 nicht gewagt, das Kreuz für Maueropfer Peter Fechter umzuwalzen, sondern hat die neue Mauer darumherum gebaut. Jetzt kommt das demokratische Deutschland, von dem wir SED-Gegner immer geträumt haben, und räumt nicht nur ein Kreuz, sondern alle Kreuze - es sind ja so viele Kreuze aufgestellt, wie es Opfer der Teilung gegeben hat - auf einmal ab. Das ist einfach unfaßbar! Man macht sich keine Vorstellung davon, wie gedemütigt sich dabei Menschen vorkommen, die damals das ihnen zugefügte Unrecht nur mit der Hoffnung auf das Recht durch das bessere Deutschland im Westen ertragen konnten.

"Die SED-Opfer sind gebrannte Kinder"

Welche Gegenmaßnahmen sind gegen die Zerstörung der Mauerkreuze geplant?

Holzapfel: Sowohl die Opferverbände als auch die Berliner CDU haben Protestaktionen angekündigt.

Sie haben gerade mit einem Hungerstreik gegen die Entfernung der 17.-Juni-Gedenktafeln protestiert. Am Dienstag haben Sie die Aktion nach neun Tagen abgebrochen.

Holzapfel: Das erweckt zweifellos den Eindruck der Vergeblichkeit, was ich aber nicht so sehe. Bundesfinanzminister Eichel war einfach nicht einmal bereit, über unser Anliegen ein Gespräch zu führen, geschweige denn zu verhandeln. Zwar hat das Ministerium unsere Forderungen durch einen Abteilungsleiter mündlich entgegengenommen, aber bis zum Ende des Streiks nicht darauf reagiert. Unserer Alternative, die Bitte an CDU-Chefin Merkel, schriftlich zu garantieren, daß sie nach der voraussichtlichen Neuwahl im Herbst als wahrscheinliche Regierungschefin für die Wiederanbringung der Tafeln sorgen wird, wurde auf eine so allgemeine Art entsprochen, die nicht akzeptabel war.

Das sehen die Vorsitzenden der übrigen Opferverbände in der Dachorganisation UOKG (Union der Opfer des Kommunismus), zu der auch die Vereinigung 17. Juni 1953 gehört, anders.

Holzapfel: Sicherlich anders als ich. Dennoch haben wir das weitere Verfahren gemeinsam abgesprochen, soweit Vertreter in der Kürze der Zeit erreichbar waren. Die Schwierigkeit für mich lag darin, daß Frau Merkel in ihrem Brief an uns lediglich versichert, daß sich die "CDU/CSU-Fraktion (im Deutschen Bundestag) auch weiterhin für das Gedenken an die Opfer des Aufstandes von 1953 einsetzen wird". Damit hat sie nicht mehr getan, als zu bestätigen, was sowieso schon "Stand der Debatte" ist.

Sie insistieren dagegen auf die Formulierung, im Falle eines Wahlsieges der Union solle sich die neue Bundesregierung "für eine Wiederanbringung von Fototafeln, die das Ereignis vom 17. Juni 1953 zeigen, verwenden".

Holzapfel: Sie bemerken den Unterschied: Wir wollten eine konkrete Zusage für die Gedenktafeln und das nicht expressis verbis für heute, weil darüber nur die gegenwärtige Regierung entscheiden könnte, sondern für die Zeit nach der Wahl.

Immerhin bekundet Merkels Brief doch Sympathie mit Ihrer Sache und verweist auf einen Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 17. Februar 2005, der den Erhalt der Tafeln fordert.

Holzapfel: Glauben Sie mir, ich bin weder streitsüchtig, noch habe ich zum Spaß gehungert. Natürlich würden wir nur zu gern der Politik vertrauen, aber wir SED-Opfer sind gebrannte Kinder. Erinnern Sie sich, wie zum Beispiel Gerhard Schröder im Bundestagswahlkampf 1998 versprochen hat, nach der Wahl eine adäquate Anpassung der Rentenansprüche der SED-Opfer durchzusetzen. Als er schließlich Bundeskanzler war, wollte er davon nichts mehr wissen. Umgekehrt hat die CDU/FDP-Koalition bis 1998 eine entsprechende Regelung stets verweigert - kaum war sie in ab 1998 in der Opposition, hat sie im Brustton der moralischen Überzeugung von Rot-Grün gefordert, was sie selbst zuvor nicht zu leisten bereit war.

"Hungerstreik im Geiste Gandhis"

Wieso waren die anwesenden Vorsitzenden und Vertreter der übrigen Opferverbände dennoch bereit, sich mit Merkels allgemein gehaltener Versprechung zufriedenzugeben?

Holzapfel: Weil sie offenbar eine andere Sichtweise haben. Ich habe dafür ein gewisses menschliches Verständnis, denn sich auch noch gegen die Union zu stellen, bedeutet allein gegen alle zu stehen - da die SED-Opfer von den übrigen Parteien, wie uns die Erfahrung gelehrt hat, nichts zu erwarten haben. Im übrigen hat ja nicht der Merkel-Brief zur Beendigung des Hungerstreiks geführt, sondern der mutige Auftritt zweier Unionspolitiker vor Ort, die sich voll inhaltlich hinter unsere Forderung auf Wiederanbringung der Tafeln gestellt haben.

Also das gleiche Dilemma wie bei den Vertriebenenverbänden: entweder politisch alleine zu "verhungern" oder an der Seite der Union zu verkümmern?

Holzapfel: So kann man es sehen! Auch ich habe keine Patentlösung, aber wohin es führt, mit der Union einen faulen Kompromiß - also einen Kompromiß unter Preisgabe der Substanz der eigenen Interessen und seiner Unabhängigkeit - zu schließen und sich damit ihrer politischen Laune auszuliefern, zeigt eben das traurige Beispiel der meisten Vertriebenenverbände. Und nicht zuletzt spielt natürlich auch die Abhängigkeit der Opferverbände von staatlichen Zuwendungen eine disziplinierende Rolle. Die Vereinigung 17. Juni bekommt diese Zuwendungen nicht.

Alexandra Hildebrandt, die Leiterin des Mauermuseums am Checkpoint Charlie und Initiatorin sowohl des Mauerkreuze-Mahnmals als auch der 17.-Juni-Gedenktafeln-Aktion, befürchtet, Ihr Hungerstreik könnte von Frau Merkel als Erpressungsversuch gedeutet werden.

Holzapfel: Erpressung ist die Anwendung illegitimer Zwangsmittel. Ein Hungerstreik aber stellt einen zulässigen moralischen Druck dar und zielt gemeinhin nicht darauf, dem anderen die Verantwortung für Leib und Leben aufzulasten - das sehen nur Leute so, die denken wie zum Beispiel die Terroristen der RAF -, sondern soll lediglich unterstreichen, wie wichtig dem Hungerstreikenden die Sache ist. Ich verstehe den Hungerstreik im Geiste Gandhis. Und bei all meinen Aktionen habe ich immer darauf geachtet, nur Forderungen zu stellen, deren Erfüllung den Adressaten nicht das Gesicht verlieren lassen, was natürlich umgekehrt auch Pflicht des Adressaten sein sollte! Ich glaube, daß das Mittel des Hungerstreiks angemessen, ja geboten war, weil es Eichel und Merkel demonstriert, daß sie es mit Leuten zu tun haben, die bereit sind, Widerstand gegen diesen oberflächlichen Umgang mit ernsten Anliegen zu leisten, denen die Dinge, die sie fordern, wirklich wichtig sind. Was sollen Politiker von Menschen halten, die von ihnen etwas wollen, aber selbst nicht einmal bereit sind, die eigene Gemütlichkeit zu opfern. Als Politiker würde mich eher solche faule Wurstigkeit, die mich behelligt, aber selbst nicht behelligt werden will, wütend machen als ein überzeugter Idealist.

Nun fühlen Sie sich Ihrerseits von Eichels und Merkels Wurstigkeit gedemütigt?

Holzapfel: Frau Merkel hat ja immerhin reagiert, wenn auch nicht akzeptabel. Hans Eichel hat ganz einfach die Arroganz der Macht praktiziert, indem er noch nicht einmal zum Gespräch bereit war. Aber nach unserer Ansicht stellt auch das "freundliche" Verhalten von Frau Merkel eine Demütigung der Opfer dar. Verstehen Sie, bei meinem Hungerstreik ging es nicht nur um die Gedenktafeln einer extremen, verdienstvollen Aktivistin, sondern vor allem um die Würde der Opfer! Mit der Demontage an diesem geschichtsträchtigen Ort wurden die Opfer und die noch lebenden Teilnehmer zutiefst gedemütigt. So liederlich, amtsvergessen und arrogant geht man nicht mit Geschichte um! Wenn die Tafeln im Herbst doch wieder aufgehängt werden, dann wäre das der Courage einzelner Politiker, wie des Berliner CDU-Generalsekretärs Henkel oder des Bundestagsabgeordneten Gewalt zu verdanken, nicht aber einer etwa vorhandenen grundsätzlichen Einstellung einer Partei. Hierin sehe ich auch einen Affront gegen die SED-Opfer.

Woher kommt diese völlige Machtlosigkeit angesichts des moralischen Lobgesangs, den Politiker und Medien in Sonntagsreden immer wieder auf den 17. Juni 1953 anstimmen?

Holzapfel: Eine berechtige Frage, denn der 17. Juni 1953 ist in der Tat neben dem Herbst 1989 das bedeutendste Freiheits- und Einheitsereignis für Deutschland wie für Europa. Für Europa deshalb, weil er der Ausgangspunkt für die Freiheitsbewegung im kommunistisch unterdrückten Osteueropa war. Nach Einschätzung namhafter Vertreter der Freiheitsbewegung in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn hätte es ohne den 17. Juni 1953 die Freiheitsaufstände von 1956 und 1968 nicht gegeben. Für Deutschland spielt der Aufstand deshalb eine so wichtige Rolle, weil er die Revision des Bildes bedeutet, das viele Deutsche und Ausländer seit 1945 von den Deutschen gehabt haben: das Bild eines freiheits- und demokratieunfähigen Volkes von willigen Vollstreckern, ohne Würde und Selbstachtung. Der 17. Juni 1953 aber hat aller Welt gezeigt, daß die Deutschen sich eben nicht von oben alles gefallen lassen: Wir sind das Volk! Er läutete einen Prozeß zur Rückgewinnung unserer staatsbürgerlichen Würde und unseres nationalen Selbstvertrauens ein - der bis heute leider noch nicht abgeschlossen ist, ja sogar erneute Rückschläge erlebt hat. Der 17. Juni ist eines jener Ereignisse, die Freiheit und Nation gekoppelt haben. Solche Angelpunkte sind es, die ein Volk in seiner Geschichte braucht, damit Freiheit und Nation gelingen und nicht in Diktatur und Nationalismus verunglücken - wie das jedem Volk sehr leicht passieren kann. Solche Momente in seiner Geschichte überhaupt zu haben, ist nicht selbstverständlich, und wir Deutschen sollten uns deshalb glücklich schätzen, den 17. Juni 1953 zu haben.

Wieso aber erfährt er de facto keine Wertschätzung?

Holzapfel: Der 17. Juni hat nicht nur das Pech, keine "linke" Aufstandsbewegung zu sein - obwohl er auch Sozialdemokraten und Arbeiter mit einschließt -, sondern sogar explizit Freiheit und Vaterland gegen den Totalitarismus von links verteidigt zu haben. Und er ist obendrein darin auch noch ausgesprochen national gefärbt! Länder wie die USA, Frankreich oder Polen sind gerade auf den starken nationalen Gehalt ihrer Freiheitsbewegungen stolz, in Deutschland aber ist gerade das unterschwellig ein großes Problem. Und zwar, weil die geistige Führerschaft in Deutschland nach 1945 von einer "Linken" übernommen wurde, die Freiheit und Demokratie als nichtswürdig erachtete, wenn sie nicht in Verbindung mit ihren orthodoxen "linken" Vorstellungen steht, die also Freiheit und Demokratie nicht als Wert an sich, sondern nur als Mittel zum Zweck betrachtete: keine emanzipatorische und freiheitliche, sondern eine ideologische und ressentimentgeladene "Linke". Auch wenn dies sicherlich nicht immer so war oder generalisiert werden kann. Angesichts der geistigen und moralischen Schwäche der bürgerlichen Kräfte übertrug sich dieses Ressentiment gegen den 17. Juni von dieser linken Elite unmerklich auf die ganze deutsche Öffentlichkeit, weil beim 17. Juni bislang nicht gelungen ist, was beim 20. Juli 1944 schon weitgehend erreicht ist.

Nämlich?

Holzapfel: Den entscheidenden patriotischen Hintergrund fast völlig zu verdrängen. Man hat den Aufstand für die Nation, die der 20. Juli 1944 in erster Linie war, mittlerweile reduziert auf einen "Aufstands des Gewissens". Das war er zwar auch, aber den Offizieren ging es in erster Linie um die Ehre und den Bestand ihres Vaterlandes, erst nachrangig um ihr persönliches Gewissen, das ja auch nach Gusto "links" interpretiert wurde. Beim 17. Juni ist es dagegen bislang noch nicht gelungen, trotz einiger Versuche, aus heißem Patriotismus kühle Moral zu destillieren.

"Ganze Schulklassen haben geschlossen unterschrieben"

Während Ihres Hungerstreiks haben Sie auch über tausend Unterschriften von Passanten für Ihr Anliegen gesammelt.

Holzapfel: Und dabei eine ganz erstaunliche Feststellung gemacht. Wir haben fast hundertprozentig positive Reaktionen erlebt! Täglich haben mehrere Hunderte Passanten und Touristen unsern Stand passiert, die Zahl derer, die sich gegen unsere Forderung ausgesprochen haben, bewegt sich im Promillebereich. Vor allem bei den jungen Menschen haben wir ausnahmslos positive, ja sogar begeisterte Reaktionen erlebt - ganze Schulklassen haben geschlossen unsere Petition für den 17. Juni unterschrieben! Offenbar klafft also zwischen der Wertschätzung des 17. Juni, wie wir sie in diesen Tagen durch Politik und Medien erfahren haben, und der des Volkes eine gewaltige Lücke. Die Geringschätzung durch Politik und Medien rührt also nicht aus einem Desinteresse des Volkes, sondern stellt ein Sonderdesinteresse des Establishments dar! Außerdem wurden viele der Besucher nicht nur mit unserem konkreten Anliegen konfrontiert, sondern reagierten erstaunlich offen mit Bemerkungen wie der, SED-Opfer seien - gegenüber NS-Opfern - "Opfer zweiter Klasse". Ein Umstand, der von den Medien bekanntlich ignoriert und von der Politik weitgehend geleugnet wird. Das heißt, auch die "hohe" Bewertung von NS-Opfern und die "niedrige" Bewertung von SED-Opfern die zum Comment unseres Zeitgeistes gehört, ist eine Sache, die im Volk kaum verwurzelt ist, sondern allein vom Establishment getragen wird. Das Volk empfindet - viel mehr menschlich als moralisch - alle Opfer von Diktaturen als gleichwertig. Wir können nur hoffen, daß die neue Gerechtigkeit für alle Opfer den gegenwärtigen Zeitgeist möglichst bald überwindet.

 

Carl-Wolfgang Holzapfel ist Vorsitzender der Vereinigung 17. Juni 1953. Zwar ist der 1944 im schlesischen Bad Landeck geborene Bankkaufmann selbst kein "17er", gehört der Veteranenorganisation aber dennoch seit 1962 an. Immer wieder beteiligte er sich an legalen und "illegalen" Aktionen gegen die Mauer. 1965 gelang der DDR die Verhaftung des West-Berliners. Verurteilt zu acht Jahren Haft, wurde er nach 13 Monaten freigekauft. Heute lebt er in Bayern.

Vereinigung 17. Juni 1953: Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 gründeten in den Westen entkommene Veteranen der Erhebung 1957 die Vereinigung 17. Juni 1953. Im Jahre 1964 spaltete sich die Organisation: Der Arbeitskreis 17. Juni fühlt sich in erster Linie der Traditionspflege verpflichtet, während die Vereinigung 17. Juni weiterhin politisch die Ziele des 17. Juni 1953 verfolgt.

Kontakt: Pettenfeldstraße 6, 86947 Weil, Tel.: 0 81 83 / 95 05 14

 

Foto: Carl-Wolfgang Holzapfel im Hungerstreik: "Respekt der Politik vor den Opfern statt Demut der Opfer vor der Politik"

 

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