© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/05 01. Juli 2005

Der Bürger auf Abwegen
Umdüstert zwar, aber edel: Die Moralisierer kühlen ihr Mütchen an Speers Biographen Joachim Fest
Thorsten Hinz

Der Speer- und Hitler-Biograph Joachim Fest kämpft um seinen Ruf. Seine Weichzeichnung von Hitlers Rüstungsminister Albert Speer, der ihm auch als exklusive Informationsquelle gedient hatte, kann als erwiesen gelten. Indem er Speers Darstellung, von der Judenverfolgung wenig mitbekommen zu haben, als Tatsache unter die Leute brachte, habe er der deutschen Nachkriegsgesellschaft eine psychologische "Entlastung" ermöglicht - so in etwa lautet der Hauptvorwurf an den inzwischen 78jährigen Historiker Fest.

Auch wenn das zuträfe, handelte es sich um ein selber bereits historisch gewordenes Problem. Ein normaler geschichtswissenschaftlicher Revisionismus nimmt seinen Lauf. Und natürlich spielt Neid über den Riesenerfolg seiner Bücher und den nachhaltigen Einfluß, den sie ausüben, mit hinein.

Was Fest in diesen Wochen widerfährt, hat etwas von Heimzahlung und Mütchen-Kühlen. Vor allem haben ihm viele nicht verziehen, daß er 1986 als FAZ-Herausgeber Ernst Nolte den großen Auftritt ermöglichte ("Vergangenheit, die nicht vergehen will"), der den Historikerstreit auslöste, und daß er dem Attackierten mit einem Aufsatz zur Seite sprang. Jetzt, da die Konjunktur der Geschichtsmoralisierer zu Ende geht, treten sie ein letztes Mal nach.

Fest hat sich zusätzlich angreifbar gemacht, indem er in Interviews erklärte: "Speer hat uns alle belogen." Der Minister des Führers - man denke! Doch was wäre der Lügner ohne den, der ihm auf den Leim geht? Fests Klage wirft ein merkwürdiges Licht auf seine Arbeitsweise als Historiker. Da wirkt es albern, wenn er permanent behauptet, seit seiner 1973 erschienenen Hitler-Biographie seien keine neuen Erkenntnisse hinzugekommen.

Brigitte Hamann hat in ihrem Buch "Hitlers Wien" (1996) seine Darstellung der Jugendzeit des "Führers" einer Revision unterzogen, wie sie gründlicher nicht sein könnte. Trotzdem bleibt Fests Buch gültig, es wirkt schon heute zeitlos. Erstens, weil er den damaligen Wissensstand zusammengefaßt und auf den Punkt gebracht hat, vor allem aber wegen seiner literarischen Bedeutung. Fests Hitler-Biographie - das Zentralgestirn seines Schaffens, das von seinen anderen Bücher wie von Planeten umkreist wird - ist eine, um mit Hegel zu sprechen, "zur Prosa geordnete Wirklichkeit", sie besitzt die Kohärenz und Überzeugungskraft eines großen Romans. Damit kommen wir zu einem entscheidenden Punkt: Dieser Roman entstammt nach Sprache, Gliederung, Figuration, Geisteshaltung usw. dem längst zu Ende gegangenen bürgerlichen Zeitalter.

Kein Faktenhuber, sondern ein Ästhet

Fest meint, daß ihn von anderen Historikern der Verzicht auf das Moralisieren der Geschichte unterscheide. Ihm gehe es nur um Erkenntnis. Die erste Aussage ist richtig, die zweite müßte modifiziert werden. Fest ist kein Aktenleser und Faktenhuber, sondern ein Ästhet. Er verläßt sich auf die Feldforschung anderer, er stützt sich auf Sekundärliteratur, auf Memoiren, situative Schilderungen. Ihnen entnimmt er Stimmungsbeschreibungen, Beobachtungen, die er zu bedeutungsvoll aufgeladenen Szenen verdichtet. Er verfügt über ein psychologisches Gespür, eine kulturelle Bildung und Sprachkunst, wie sie nur noch Golo Mann (1909-1994) zur Verfügung standen.

In der Vorherrschaft des psychologisch-ästhetischen Zugriffs liegt aber die Gefahr. Fests Bild von Albert Speer war bereits fertig, bevor er ihn persönlich kennenlernte. Schon in der - unter anderem von Hannah Arendt - hochgelobten Porträtsammlung "Das Gesicht des Dritten Reiches" hat er Speer als intelligenten, lebenszugewandten, sensiblen, aber "von der traditionellen antigesellschaftlichen Gleichgültigkeit (erfüllten) Künstler und Techniker" beschrieben. Als das Buch 1963 erschien, saß Speer noch im Kriegsverbrechergefängnis in Spandau ein. Am Bild des lediglich auf Abwege geratenen Bürgers hat Fest stets festgehalten. Er brauchte Speer als Idealtypus und Bedeutungsträger für den großen deutschen Schicksalsroman, an dem er wob. Für dieses literarische Verfahren, das auch Thomas Manns "Doktor Faustus" zugrunde liegt, ist intuitives Vor-, Hintergrund- und Abgrundwissen wichtiger als faktische Präzision, mitunter stört sie nur.

Dieser Dichtungs-Gehalt ist ein Grund, warum die Festsche Geschichtsprosa nach wie vor begeistert. Von ihr geht dieselbe Verzauberung aus, die Günter Kunert an den Büchern Thomas Manns festgestellt und problematisiert hat: "... und glaubte, sich darin wiederzuerkennen. Sich bestätigt zu finden. Zum Untergang verurteilt, durch unnennbare Mächte, aber von faustischem Wesen. Umdüstert zwar, aber edel. Trotz allem von Größe und Adel durchdrungen, wenigstens geistigem. Und wenn schon jemandem verschrieben zu Nutz und Eigentum, dann zumindest Mephisto ..."

Fests Prosa erfüllt eine ganz ähnliche Trostfunktion. In seiner Hitler- und Deutschland-zentrierten Totalität gehen die Entfesselung, der Verlauf und das Ende des Zweiten Weltkrieges allein auf den einen, einzigen Genius des Bösen zurück, in dem die unheilvollen deutschen Traditionen und Mythen zusammenfließen. So haben die Deutschen die stolze Gewißheit, daß ausschließlich sie selbst die Ursache gesetzt haben für das, was ihnen an Katastrophen widerfahren ist. Von einem fernen Stern betrachtet mag das ganz anders und der Untergang Deutschlands auch als ein fremdkalkuliertes Ereignis zur Umgestaltung Mitteleuropas erscheinen. Die Romanästhetik des 19. Jahrhunderts kommt hier an ihre Grenze.

Wo ich bin, da ist die deutsche Kultur!

Kunerts ironische Kritik an Thomas Mann gibt einen Hinweis, warum Fest als Reizfigur empfunden wird. Erscheinung, Manieren, Redeweise - er demonstriert in beinahe provozierender Weise, daß er einer anderen Welt entstammt und in eine andere zu gehen hofft. Wo ich bin, da ist die deutsche Kultur! Wenigstens symbolisch wollen Fest (und sein langjährigen Verleger und Freund Wolf Jobst Siedler) die Maßstäbe der bürgerlichen, der Thomas-Mann-Welt aufrechterhalten, den Verwüstungen zum Trotz, die die Massengesellschaft und ihre nationalsozialistische Mutation angerichtet haben.

Auf der Grundlage des Bürgerlichen trafen sich beide mit Albert Speer, der ebenfalls aus guten Hause stammte. Nie im Leben hätten sie sich auf ein Treffen mit dem verhutzelten Kleinbürger und Generalbevollmächtigten für den Kriegs-einsatz, Fritz Sauckel, eingelassen, der 1946 in Nürnberg an Stelle von Speer aufgehängt wurde. Was inzwischen über die Verstrickung Speers bei der Judenverfolgung bekanntgeworden ist, läßt jedoch auf eine noch viel weitergehende Zerstörung der bürgerlichen Substanz schließen, als Fest (und Siedler) das wahrhaben wollten. Die früh erkennbaren Anhaltspunkte dafür ignoriert zu haben, weckt Zweifel an der Berechtigung ihres erhabenen Gestus.

Sei's drum! Für die Gegenwart viel interessanter ist die Frage, welche Debatten man sich eigentlich erspart, indem man jetzt den kritischen Fokus auf Fest richtet. Der Film "Speer und er" hätte ja auch Nachfragen auslösen können, welchen Einfluß die Kinder hochrangiger NS-Größen auf die gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik genommen haben, und zwar von linksaußen: als Politiker, Akademiker, Museumsleiter, Journalisten, Finanziers von Ausstellungen usw. Der israelische Psychologe Bar On hat versucht, ihre Perspektive einzunehmen, um ihre Problematik zu verstehen: "Dies ist ein wirkliches Dilemma: Wir wollen und wir müssen das Schweigen durchbrechen, aber zur gleichen Zeit müssen wir (teilweise) das Schweigen fortführen, um Beschädigungen unseres individuellen Lebens zu verhindern."

Speers Tochter trägt familiäre Konflikte politisch aus

Das läßt sich am Beispiel der Speer-Tochter Hilde Schramm gut veranschaulichen. In Heinrich Berloers Fernsehfilm klang an, daß sie sich intensiv um die Freilassung ihres Vaters bemüht hatte. Über ihre Versuche, ein Urteil zu korrigieren, das ihr Vater am Ende seines Lebens wegen seiner "Hauptschuld", nämlich "der Billigung der Judenverfolgung und der Morde an Millionen von ihnen" als korrekt ansah (so die Speer-Biographin Gitta Serenyi), schweigt sie. Ihre ungelösten familiären und persönlichen Konflikte trug sie auf der politischen und beruflichen Ebene aus. Dort redete sie - und wie! "Der Nationalsozialismus war und blieb ihr wichtigstes Beschäftigungsfeld" (Serenyi).

Hilde Schramms Karriere ist typisch. Die habilitierte Erziehungswissenschaftlerin war viele Jahre in der Friedensbewegung tätig. In Berlin-Steglitz, wo sie wohnt, brachte sie Plakate zur NS-Vergangenheit des Bezirkes an. Von 1985 bis 1990 saß sie für die Grünen im Abgeordnetenhaus und wurde sogar zur Vizepräsidentin gewählt. Sie machte als Gegnerin der deutschen Wiedervereinigung von sich reden. Als die dennoch kam, wußte sie sofort, was den Neuen Ländern nottut. Sie gründete in Brandenburg die "Regionale Arbeitsstelle für Ausländerfragen" und war bis 1999 deren Leiterin. Zu ihren Aufgaben gehörte es, interkulturelle Projekte in Schulen und Kindergärten zu organisieren und Material zur Lehrerweiterbildung zu erarbeiten, mit dem Schwerpunkt Rechtsextremismus. Mit diesem neokolonialistischen Ansatz hat sie in den Neuen Ländern mehr Schaden als Nutzen angerichtet.

Auf diesem Feld müssen künftige Auseinandersetzungen gesucht werden, die einer zweiten Vergangenheitsbewältigung gleichkommen. Speer und sein Biograph sind dagegen zu Gegenständen der Historiographie geworden.


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