© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/05 08. Juli 2005

"Politische Schlagseite"
Der ehemalige FDP-Politiker und Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig über das Straßburger Enteignungsurteil
Moritz Schwarz

Herr Professor Schmidt-Jortzig, nach der Niederlage der Opfer der "roten Enteignung" vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg am 30. März (JF 14/05) sind dort nun am Donnerstag vergangener Woche auch die Opfer der "schwarzen Enteignung" mit ihrer Klage gescheitert. Ist damit das Kapitel "Kampf um den Rechtsstaat in Sachen Enteignungen" nach 15 Jahren unrühmlich, aber endgültig geschlossen?

Schmidt-Jortzig: Wir müssen uns wohl an den Gedanken gewöhnen, daß die juristischen Mittel in der Tat ausgeschöpft sind. Eine andere Frage ist die politische Dimension des Falles. Das gilt auch für die sogenannten "roten Enteignungen".

Aber noch ist dazu ein einzelnes Verfahren in Straßburg anhängig.

Schmidt-Jortzig: Das ist ein "Nachhutgefecht", in der Hauptsache hat Straßburg im Frühjahr abschlägig entschieden.

Einer der Klagevertreter der 1945 bis 1949 Enteigneten, der Rechtsanwalt Thomas Gertner, hat allerdings nach der Niederlage im März im Interview mit dieser Zeitung (JF 15/05) angekündigt, er werde "erneut nach Straßburg ziehen".

Schmidt-Jortzig: Der EGMR hat das Verfahren in der Tat lediglich aus formalen Gründen beendet. In der eigentlichen Sache wurde nicht entschieden.

Gertner hatte argumentiert, die Enteignung sei nicht nur eine simple Konfiskation, sondern eine Verletzung der Menschenrechte gewesen und zwar, weil die Opfer mit dem Pauschalvorwurf, "Junker", "Nazis" oder "Kriegsverbrecher" gewesen zu sein, eine politische Diskriminierung erfahren hätten. Wenn das Gericht aber aus formalen Gründen bis zu diesem Punkt gar nicht gekommen ist, dann ist doch in der Tat noch "alles drin"?

Schmidt-Jortzig: Theoretisch ja, praktisch rate ich jedoch von einem erneuten Gang nach Straßburg ab. Denn daß die Entscheidungen bisher alle so gefallen sind, wie sie gefallen sind, hat seinen Grund.

Was meinen Sie damit?

Schmidt-Jortzig: Die bisherigen Erfahrungen zeigen doch, daß der politische Wind ganz offenbar gegen die Opfer der Enteignung steht.

Es geht um eine rechtsstaatliches Verfahren, welche Rolle spielt da der "politische Wind"?

Schmidt-Jortzig: Man sollte sich darüber im klaren sein, daß der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg kein reines Fachgericht ist wie zum Beispiel ein Verwaltungsgericht in Deutschland, sondern bei aller Rechtsgebundenheit eine politische Einrichtung. Und bei gleichbleibender Besetzung des Gerichts kann ich nur zu äußerster Vorsicht raten.

Sie meinen, es handelt sich um ein politisches Gericht?

Schmidt-Jortzig: Nein, aber es gibt einen politischen Faktor - und das muß man wissen! Das beginnt schon mit der Zusammensetzung des Gerichts, die nicht unbedingt nach streng juristischen Gesichtspunkten erfolgt. Von den unterschiedlichen Nationalitäten der Richter will ich gar nicht sprechen, und nicht jeder Kandidat hat wirklich einen profunden juristischen Hintergrund.

Ist das für ein Gericht ein akzeptabler Zustand?

Schmidt-Jortzig: Es ist bestimmt kein Idealzustand, andererseits ist es auch kein Zustand, der es rechtfertigen würde, von einem "politischen" Gericht zu sprechen.

Er fördert aber auch nicht gerade das Vertrauen des Bürgers in die Europäischen Institutionen.

Schmidt-Jortzig: Sicherlich nicht.

Wie wirkt sich dieser geringere Fachgerichtscharakter des EGMR auf den Fall der Einteignungen aus?

Schmidt-Jortzig: Ich habe den Eindruck, die unterschwellige Stimmung in Straßburg ist die: "Mit all dem soll jetzt endlich einmal Schluß sein."

Also doch: Europa eine Bananenrepublik?

Schmidt-Jortzig: Das ist polemisch.

Tatsächlich? Angesichts der Tatsache, daß die Betroffenen so viel Geld, Nerven und Lebenszeit investiert haben, um nichts als ihr Eigentum zurückzubekommen - und das auch noch groteskerweise gegen einen sich dezidiert als Rechtsstaat betrachtenden Staat?

Schmidt-Jortzig: Ich verstehe, wenn die Leute enttäuscht, ja sogar verbittert sind. Wenn sich mitunter in beiden Urteilen Argumente finden, die juristisch nicht überzeugend sind, sondern ganz offensichtlich "herhalten" mußten, um das gewünschte Ergebnis herbeizuführen, so ist das für die Betroffenen zweifellos wie Hohn und Spott.

Nach wie vor dürfte dem Laien aber unklar sein, weshalb Sie sich dann weigern, von "politischen" Urteilen zu sprechen?

Schmidt-Jortzig: Weil sich all das noch im Rahmen gerichtlicher Interpretationsmöglichkeiten bewegt.

Damit mag dem Rechtsstaat formal Genüge getan sein, aber seine Substanz ist doch verletzt?

Schmidt-Jortzig: So könnte man es ausdrücken. Aber es ist müßig, darüber zu lamentieren, weil man bei einer Wahrung der formalen Aspekte keine effektivere Handhabe hat. Natürlich kann man es erneut versuchen, aber man wird dann wahrscheinlich wieder auf das gleiche Problem stoßen: eine politische Schlagseite innerhalb der Grenzen dessen, was vielleicht nicht im Geiste des Rechtsstaats ist, aber seinem Wortlaut entspricht.

Wo bleibt das verletzte Empfinden für Gerechtigkeit?

Schmidt-Jortzig: Wenn Sie vom Rechtsstaat Gerechtigkeit verlangen, überfordern Sie die Realität und bereiten sich selbst mit hoher Wahrscheinlichkeit nur ein Frustrationserlebnis. Rechtsstaat bedeutet, daß man innerhalb verbriefter Regeln eine Chance hat, seine Argumente zur Geltung zu bringen. Dabei kann man gewinnen oder verlieren. Aber egal, wie es ausgeht, mit Gerechtigkeit im ideellen Sinne hat das oft nicht viel zu tun.

Gab es eine Einflußnahme der Bundesregierung?

Schmidt-Jortzig: Wenn die Andeutungen stimmen, dann gab es die in der Tat.

Inwiefern?

Schmidt-Jortzig: Wohl nicht mehr, als gerade noch zulässig ist.

Wer ist die Quelle dieser "Andeutungen"?

Schmidt-Jortzig: Das sind so "die Stimmen", die man von verschiedenen Seiten hört. Genauer möchte ich da nicht werden.

In beiden Fällen, dem der roten wie dem der schwarzen Enteignungen, hat zunächst die Kleine Kammer des EGMR für die Enteigneten entschieden. Erst die Große Kammer hat in der Revision im Sinne der Bundesrepublik Deutschland geurteilt.

Schmidt-Jortzig: Außerdem gab es in der Großen Kammer offenbar Minderheitenvoten - also eine Minderheit der Richter hat gegenteilig zum schließlich gefällten Urteil votiert. All das zeigt, das Gericht hätte in beiden Fällen auch anders entscheiden können. Es hat dies aber nicht getan, und - wie ich schon sagte - solange sich die politische "Hintergrundmusik", die zu diesen Entscheidungen geführt hat, nicht ändert, so lange ist es aller Voraussicht nach vergeblich, die Petenten erneut auf ein "Schlachtfeld" zu führen, auf dem man bereits verloren hat, auch wenn laut "Schlachtplan" ein Sieg theoretisch möglich ist.

Im Urteil vom Donnerstag vergangener Woche hat das Gericht argumentiert, die Opfer der schwarzen Enteignung seien nicht in ihren Eigentumsrechten verletzt worden, weil das Gesetz der Regierung Modrow, das ihnen den Besitz an den Grundstücken sichern sollte und das am 16. März 1990, zwei Tage vor den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR in Kraft getreten war, von einer nicht demokratisch legitimierten Volkskammer verabschiedet und somit erkennbar illegitim war.

Schmidt-Jortzig: Somit hätten die Betroffenen - sofern sie das Land seit 1980 nicht mehr aktiv bewirtschaftet haben - keinen Anspruch mehr darauf. Interessanterweise kritisiert aber selbst Lothar de Maizière, der erste demokratisch gewählte Regierungschef der DDR, letzte Woche das Urteil: "Wir haben dafür gesorgt, daß dieses Gesetz in den Einigungsvertrag und das fortgeltende Recht kam." Das zeigt doch, daß das nicht einfach nur die Machenschaft einer "demokratisch nicht legitimierten Regierung" war! Das Gericht hätte also durchaus auch anders entscheiden können. Warum hat es das nicht getan? Da kommt wieder die politische Hintergrundmusik ins Spiel.

Bundesjustizministerin Zypries begrüßt das Urteil, es erspart der Bundesregierung immense Kosten.

Schmidt-Jortzig: Eben! Womit ich aber nicht andeuten will, das Gericht hätte aus diesem Grund das Recht gebeugt. Es hat "lediglich" den Spielraum politisch genutzt, der ihm rechtlich gegeben ist. Das mag unser Rechtsempfinden verletzen, es verletzt aber nicht das geschriebene und für das Gericht maßgebende Recht.

Wenn schon der betroffene Teil der Neubauern sein Land nicht zurückbekommt, wieso fällt es dann an den Staat? Warum geht nicht zurück an seine ursprünglichen Eigentümer, die von den Kommunisten enteignet wurden, um ihr Land an die Neubauern zu verteilen?

Schmidt-Jortzig: Eine gute Frage, denn wenn Straßburg argumentiert, das Gesetz vom März 1990 sei nicht relevant, weil von einem nicht demokratisch legitimierten Parlament beschlossen, so gilt das gleiche "Demokratiedefizit" natürlich erst recht auch für die stalinistischen Enteignungen zwischen 1945 und 1949. Offenbar aber legt man diesen Sachverhalt mal so und mal so aus.

Und zwar immer so, daß das Eigentum an den Staat fällt.

Schmidt-Jortzig: So ist es.

Wie würden Sie diesen Umstand bezeichnen?

Schmidt-Jortzig: Als Bedienung einer Einstellung, die eigentlich nach 1989/90 überwunden sein sollte, auf jeden Fall aber dem Privatisierungsversprechen aus dem deutsch-deutschen Vereinigungswerk und der Eigentumsgarantie widerspricht.

Warum würden Sie es nicht "Raub" oder "Diebstahl" nennen?

Schmidt-Jortzig: Weil das vorbehaltene Gut nun einmal formell nicht mehr im Eigentum der Düpierten stand, sondern nur wieder dorthin gehört hätte.

Immerhin darf der Staat mittlerweile gerichtlich sanktioniert als "Hehler" bezeichnet werden.

Schmidt-Jortzig: Im juristischen Sinne sicher nicht.

Sie sprachen davon, daß die effektiven juristischen Mittel ausgeschöpft seien, haben aber auf die "politische Dimension" verwiesen. Erwarten Sie wirklich - ausgerechnet nach dem Scheitern vor Gericht, wohin man ja gerade gezogen war, weil Recht bei der Politik nicht zu finden war - eine neue Initiative aus den Reihen der Parteien?

Schmidt-Jortzig: Die Ebene der Politik ist etwas völlig anderes als die Ebene des Rechts, und ich meine, solange dieser Fall so offensichtlich das Gerechtigkeitsgefühl eines jeden rechtstreuen Bürgers verletzt und so offenbar allein etatistischen Zwecken dient, kann er politisch nicht als abgeschlossen betrachtet werden.

Aber woher soll denn die Initiative kommen?

Schmidt-Jortzig: Zum Beispiel hat die FDP erklärt, daß sie den Fall durchaus nicht als abgeschlossen betrachtet.

Die FDP war doch in den neunziger Jahren zusammen mit der Union gerade die Kraft, die eine adäquate Restitution der roten Enteignung verhindert und die schwarze Enteignung durchgeführt hat!

Schmidt-Jortzig: Die FDP hat damals dem Revisionsverbot nur unter dem Vorbehalt zugestimmt, daß später doch noch eine angemessene Restitution zustande kommt.

Wozu es - was wunder - nie gekommen ist.

Schmidt-Jortzig: Leider.

Könnte man das nicht als "Trick 17" bezeichnen, oder ganz einfach als Betrug?

Schmidt-Jortzig: Nein, die sogenannte "Gattermann-Erklärung" war damals schon ernst gemeint. Im übrigen hat dann - 1991 - das Bundesverfassungsgericht alle Beschwerden dagegen zurückgewiesen, und das hat natürlich bei einigen Politikern die Haltung hervorgerufen: "Na bitte, was wollt Ihr denn? Ist doch alles rechtens!"

Gestatten Sie, daß wir beim Verdacht des Betrugs bleiben!

Schmidt-Jortzig: Wie Sie wollen.

Bislang haben weder Frau Merkel noch Herr Westerwelle Anzeichen für eine Initiative in dieser Frage erkennen lassen, für den Fall, daß sie die voraussichtliche Bundestagswahl im Herbst gewinnen.

Schmidt-Jortzig: Denken Sie zum Beispiel daran, daß Niedersachsens Ministerpräsident Wulff versprochen hat, notfalls über den Bundesrat eine Initiative zu starten.

Sie nehmen ihn beim Wort?

Schmidt-Jortzig: Das möchte ich schon. Und es muß unsere Aufgabe sein, hier nachzusetzen und ihn und andere auch nach der Wahl daran zu erinnern, was sie versprochen haben.

 

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Der FDP-Politiker war von 1996 bis 1998 Bundesminister der Justiz, außerdem Abgeordneter des Deutschen Bundestages und Mitglied im Landesvorstand der Liberalen in Schleswig-Holstein. Geboren 1941 in Berlin, lehrt er als Professor für Öffentliches Recht in Kiel, war Verfassungsrichter in Sachsen und ist als Richter an zwei Oberverwaltungsgerichten tätig.

"Rote" und "schwarze" Enteignung: 1945 bis 1949 enteigneten die Kommunisten in Mitteldeutschland zahlreiche Grundbesitzer - die "rote Enteignung". Das Land wurde unter anderem an sogenannte "Neubauern" verteilt. Deren Erben wurden 1992 - vorausgesetzt, sie hatten die Flächen seit 1980 nicht mehr bewirtschaftet - ihrerseits von der CDU/FDP-Regierung enteignet - die "schwarze Enteigung".

 

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