© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/05 08. Juli 2005

Mit schneidender Schärfe
Vertrauensfrage I: Die Angriffe des Abgeordneten Werner Schulz auf Schröders Neuwahl-Politik haben eine Vorgeschichte
Thorsten Hinz

Wie tief die Hiebe saßen, die der grüne Abgeordnete Werner Schulz im Bundestag den Regierungsfraktionen verabreichte, ließ sich am Gesicht der Parteivorsitzenden Claudia Roth ablesen. Vor Entsetzen vergaß sie, ihre Empörungsmiene aufzusetzen, und behielt so den Normalausdruck natürlicher Beschränktheit bei.

Was Schulz in seiner kaum mehr als fünfminütigen persönlichen Erklärung äußerte, war ja auch weniger Detailkritik am Verfahren der Vertrauensfrage, sondern es war eine Abrechnung mit der Ära von Rot-Grün und der politischen und moralischen Haltung, die ihr zugrunde lag. Mit schneidender Schärfe wies Schulz auf den Widerspruch hin, daß Kanzler Gerhard Schröder die Neuwahl zum Plebiszit über seine Reformpolitik erkläre, in der Frage der EU-Verfassung sich einem Plebiszit aber entschieden entgegenstellt habe. Die Rede Schröders sei zwar "staatsmännisch" gewesen, doch in Wahrheit sei er ein "Kanzler, der sein Selbstvertrauen verloren hat".

Über Jahre aufgestaute bittere Enttäuschung

Wie Hammerschläge gingen die Vorwürfe nieder: "inszeniert", "absurd", "fingiert", "unecht", "unwahr". Schulz erinnerte an den Einstein-Spruch, der am Kanzleramt prangt: "Der Staat ist für die Menschen da, nicht die Menschen für den Staat". Auch ein "wirrer Schönschreiber" von der Zeit bekam sein Fett weg, weil er Schröders Bestreben, sich einen spektakulären Abgang zu verschaffen, als "patriotische Tat" gefeiert hatte.

Was in dieser Philippika hervorbrach, hatte sich in Jahren aufgestaut, hatte mit Herkunft, mit Überzeugungen und bitteren Enttäuschung zu tun. Schulz wollte gewiß keinen abstrakten, unpraktikablen Buchstaben der Verfassung hochhalten, sondern - um es mit angemessenem Pathos zu sagen - ihren demokratischen Geist. Ihm sei die Demokratie nicht geschenkt worden, er habe sie sich unter gefährlichen Umständen erkämpfen müssen, kommentierte er das falsche Staatstheater.

Schulz, 1950 im sächsischen Zwickau geboren, kommt aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Erst als 26jähriger wurde der Wehrdienstverweigerer zum NVA-Ersatzdienst befohlen - eine der vielen, kleinlichen Quälereien, die die DDR für die Renitenten unter ihren Bürgern bereit hielt.

1980 verlor er seine Assistentenstelle an der Berliner Humboldt-Universität, weil er mit der Ablehnung des russischen Einmarschs in Afghanistan nicht hinter dem Berg hielt. Er war Mitglied im oppositionellen Friedenskreis Pankow. Trotzdem schaffte der Vater zweier Kinder den Einstieg in ein halbwegs normales Berufsleben in der DDR und entging so dem Abgleiten in eine catalinarische Existenz, aus der sich viele SED-Regimegegner auch nach 1989 nicht mehr befreien konnten.

1990 waren die West-Grünen aus dem Bundestag geflogen. Die Stellung hielt - aufgrund der getrennten Wahlgebiete war das möglich - eine kleine Gruppe DDR-Bürgerrechtler, die von Schulz angeführt wurde.

Die alten Platzhirsche kehrten zurück

1994 kehrten die alten Platzhirsche zurück, Fischer beanspruchte wie selbstverständlich den Fraktionsvorsitz, und Schulz erlebte seine Degradierung zum Fraktionsgeschäftsführer. Schon damals sickerte durch, daß er keine Lust hatte, den grünen Byzantinismus mitzumachen und sich in Fischers Korona einzufügen.

Fischer wiederum erkannte in dem intelligenten und rhetorisch begabten Schulz einen möglichen Konkurrenten und sorgte dafür, daß er nie wieder in die erste Reihe vorrückte. Daran änderte auch Fischers Wechsel ins Außenamt nichts. Statt Schulz wurden Nullösungen wie Rezzo Schlauch, Kathrin Göring-Eckart und Krista Sager zu Fraktionsvorsitzenden gewählt, allesamt Fischer-Marionetten. Schulz übernahm als wirtschaftspolitischer Sprecher eine Aufgabe, in der ein Grünenpolitiker unmöglich Meriten erringen kann.

Bei der Listenaufstellung spektakulär gescheitert

Im nächsten Bundestag wird er nicht mehr vertreten sein. In Berlin ist er bei der Bewerbung um einen sicheren Listenplatz mehrmals spektakulär gescheitert. Das mag seine Bereitschaft erklären, Fraktur zu reden. Der Abgang des letzten der DDR-Bürgerrechtler zeigt, daß ihre Liaison mit den West-Grünen ein historisches Mißverständnis war. Sie hatten die Grünen mit Personen wie Petra Kelly verwechselt, für die Politik nicht Beruf und Karriere, sondern Berufung bedeuteten. Sie wußten nichts über das interne Intrigantenstadl, über die Lehrjahre führender Funktionäre in den kommunistischen Grüppchen, von ihren Seilschaften, ihren Komplexen und herostratischen Energien. Sie wußten nichts von den verschlungenen Wegen und Motiven entlaufener Bürgersöhne und -töchter, denen es von einem bestimmten Punkt an nur noch um "Staatsknete" und um den Staat als Beute ging und um das Wegbeißen von Konkurrenten.

Schulz' DDR-Volkskammer-Vergleich ließ sie im Chor aufheulen. Er garnierte ihn mit einem direkten Angriff auf Fischer, als er erklärte, die "Rückkehr der Geschichte" (so lautet der Titel des neuen Fischer-Elaborats) sollte nicht als "ein Stück Volkskammer" gestaltet werden.

Das war keine Gleichsetzung des DDR-Parlamentes mit dem Bundestag, aber ein Hinweis darauf, daß die Abgeordneten mit ihrem lemminghaften Verhalten und Gefolgschaftsinstinkt auch in der DDR hätten Staat machen können. Eine Liebeserklärung an Schwarz-Gelb verbarg sich darin gewiß nicht. Vielmehr drückte der zornige Schulz seine Erkenntnis aus, daß die rot-grüne Frucht nicht von außen geknackt worden ist, sondern von Anfang an innerlich faul war.


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