© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/05 08. Juli 2005

Stetige Unterstützung gibt es nicht
Vertrauensfrage III: Bei der Entscheidung über die Auflösung des Bundestages kommt der Bundespräsident am Verfassungsgerichtsurteil von 1983 nicht vorbei
Friedrich Karl Fromme

Kaum eine ältere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird in den vergangenen Wochen so oft und so gründlich gelesen worden sein wie die vom 16. Februar 1983, veröffentlicht im 62. Band der amtlichen Entscheidungssammlung. Es ging um die von dem kurz zuvor vom Bundestag gewählten Kanzler Helmut Kohl (CDU) gewünschten vorzeitigen Bundestagswahlen. Er hatte sie, wie sein Nachfolger Gerhard Schröder (SPD) jetzt, mit der Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes eingeleitet. Auch Kohl hatte die Ablehnung der Vertrauensfrage sorgfältig organisiert. Die Bundesminister, so der verabredete Trick damals, sollten sich, soweit sie Mandatsinhaber waren, der Stimme enthalten. Die von Kohl gestellte Vertrauensfrage bekam plangerecht nicht die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten. Bundespräsident Karl Carstens (CDU) löste auf Antrag Kohls am letzten Tag der ihm von der Verfassung gewährten Dreiwochenfrist den Bundestag auf. Diese Aktion fochten vier Abgeordnete beim Bundesverfassungsgericht an - vergeblich.

Vertrauensfrage als letztes Mittel

Eindeutig sind die aus dem Urteil abzuleitenden Erkenntnisse nicht. Drei von acht Richtern des zuständigen Zweiten Senats haben jeweils Sondervoten abgegeben, die das Manöver mehr oder minder deutlich für verfassungswidrig erklärten. Ein Dissenter sprach unverhohlen von Mißbrauch. Die Urteils-Technik ist ungewöhnlich. Breit werden die Erwägungen dargestellt, die den Verfassungsgeber geleitet haben. Dann folgt recht knapp die Zuordnung des zur Entscheidung stehenden Sachverhalts. Damit, vielleicht war das die Absicht, erfährt das Urteil den Anschein einer gewissen Eindeutigkeit.

Das Bundesverfassungsgericht mißt bei seiner Auslegung der Grundgesetzbestimmung über die Auflösung des Bundestages der Entstehungsgeschichte, also dem, was der Gesetzgeber gewollt hat, viel Bedeutung zu, rügt dann aber nicht das damit nicht in Einklang stehende Verhalten der Politik. Bei der Auslegung sogenannter "einfacher" Gesetze kommt der Entstehungsgeschichte nur nachrangige Bedeutung zu. Etwa das Verhältnis zwischen Vermieter und Mieter, zwischen Schuldner und Gläubiger kann je nach den ökonomischen Bedingungen unterschiedlich gewichtet werden. Aber eine Verfassung entsteht aus einem bestimmten Willen über die grundlegende Ordnung des Gemeinwesens, der der Auslegung entzogen ist. Dieser Wille des Grundgesetzgebers von 1949 war, daß das neue parlamentarische System stabiler sein solle als das nach der von Hitler außer Geltung (nie außer Kraft) gesetzten Weimarer Reichsverfassung von 1919.

Im Zentrum der Macht sollte das Parlament stehen. Deshalb wurde die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament auf die Person des Kanzlers konzentriert. Er allein bedarf des Vertrauens des Bundestages.

Wenn freilich die Mehrheit des Parlaments und der Kanzler absolut nicht mehr miteinander harmonieren, hat der Kanzler als letztes Mittel das Recht, die Vertrauensfrage zu stellen. Bei deren Ablehnung droht dem Parlament die Auflösung - mit allen persönlichen Folgen für den einzelnen Abgeordneten. So wird dem Kanzler ein Druckmittel an die Hand gegeben, die Mehrheit wieder hinter sich zu einen. Daran, daß der Kanzler zu ihm genehmer Zeit Wahlen veranstalten könne, war nicht gedacht.

Es gibt - auch auf Umwegen - kein Auflösungsrecht des Kanzlers, auch kein Selbstauflösungsrecht des Parlaments. Der am 1. Juli eingeleitete Vorgang ist faktisch eine Mischung aus beidem - bei Vorhand des Kanzlers. Daß es die Selbstauflösung nach dem bisher fortdauernden Willen der politischen Kräfte nicht geben soll, zeigt sich daran, daß in zwei umfangreichen, mit Sachverstand aufgeladenen Kommissionen ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments empfohlen wurde. Der Gesetzgeber hat das nicht aufgegriffen, obwohl eine solche Grundgesetzänderung, anders als etliche der rund 50, die es seit 1949 gegeben hat, kaum öffentlichen Streit ausgelöst hätte, vielmehr weithin unbeachtet über die Parlamentsbühne gegangen wäre.

Einen etwaigen Vorrang des Kanzlers bei der Auflösung wollte das Grundgesetz ausgleichen. Der Bundestag kann die - nach negativer Antwort auf die Vertrauensfrage und Antrag des Kanzlers beim Präsidenten - entstandene Situation seiner auf 21 Tage begrenzten Auflösbarkeit jederzeit beenden: indem es einen anderen Kanzler wählt. Einen "Befehl" des Kanzlers zu einem bestimmten Verhalten der ihrerseits nach Artikel 38 des Grundgesetzes nur unter ihr Gewissen gestellten Parlamentarier sollte es nicht geben.

Mit Bezug auf die 1982 von Helmut Kohl konstruierte Bundestagsauflösung sagt das Bundesverfassungsgericht, es sei nicht verfassungsmäßig, "wenn ein Bundeskanzler, dessen ausreichende Mehrheit im Bundestag außer Zweifel steht", es unternimmt, "sich zum geeignet scheinenden Zeitpunkt die Vertrauensfrage negativ beantworten zu lassen mit dem Ziel, die Auflösung des Bundestages zu betreiben". Die Versuche der Mehrheit des Karlsruher Senats, Kohls manipulierte Vertrauensfrage mit dem zitierten, zutreffenden Satz in Einklang zu bringen, interessieren heute nicht mehr.

Schleichende Usurpation der Macht durch den Kanzler

Aber dauerhafte Geltung kommt dem Satz des Urteils zu: Die Vorschriften über die Bundestagsauflösung zielten "vorrangig darauf ab, Regierungsfähigkeit herzustellen, zu gewinnen oder zu erhalten - und zwar mit dem amtierenden Bundestag".

Die Klage Kanzler Schröders, er könne seine Politik mit seiner bisherigen Mehrheit nicht mehr durchsetzen, also müsse ein anderer Bundestag her, liegt offensichtlich neben der Sache. "Handlungsunfähigkeit", besteht nicht schon dann, wenn einmal ein Gesetz nicht so durchs Parlament gebracht werden konnte, wie gedacht. Auch von "Blockade" durch den CDU/CSU-dominierten Bundesrat kann keine Rede sein. In dieser 15. Wahlperiode des Bundestages ist kein Gesetz abgelehnt worden. 35 mal konnte sogar die "Kanzlermehrheit" aufgeboten werden, einen Einspruch des Bundesrats aus der Welt zu schaffen. Wenn ein Gesetz im Parlament oder auch nach den Vorstellungen des Bundesrats, der nach dem Grundgesetz an der Gesetzgebung teilhat, gewisse Änderungen erfährt, ist das keine als Handlungsunfähigkeit zu deutende "Niederlage" des Kanzlers. Darin vollzieht sich nur das Gewollte: die Gesetzgebung obliegt der Volksvertretung, sie wird freilich faktisch von ihr und der Exekutive zur gesamten Hand ausgeübt. Die jetzige Regierung soll bis an die Grenze des Nothilfeartikels 68 des Grundgesetzes zur Handlungsunfähigkeit getrieben sein, so daß sie zum Notanker der Parlamentsauflösung greifen müßte? Das würde bedeuten, daß die permanente Kontrolle des Parlaments gegenüber der Exekutive außer Geltung gesetzt wird. Die Parlamentsauflösung gibt es nur als Heilmittel in der Regierungskrise. Wenn eine Regierung ihren vom Parlament, damit vom Volkswillen, losgelösten Plan einmal nicht ganz durchsetzen kann, ist das keine Rechtfertigung für die als Ausnahme gedachte Parlamentsauflösung.

Bundespräsident Köhler wird erwartungsvoll gerühmt als ein von den Parteien unabhängiger Mann. Das kann er hier zeigen. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht gebunden an seine früheren Entscheidungen; es brauchte jetzt, übrigens ist keiner der seinerzeit mitwirkenden Richter noch im Amt, an den Gründen von damals nichts zu ändern, es müßte nur eine andere, überzeugendere Subsumtion des Tatbestandes vornehmen. Einem Argument, das jetzt wieder gern gebraucht wird für die Auflösung, hatte das Gericht schon 1983 widersprochen: Es könne "keine Rechtfertigung für die Auflösung des Bundestages abgeben, daß alle im Bundestag vertretenen politischen Parteien oder ihre Fraktionen sich in dem Willen zu Neuwahlen einig sind".

Es geht jetzt nicht nur darum, ob der Bundestag aufgelöst wird. Es geht letztlich darum, daß die schleichende Usurpation der Macht durch den Kanzler (und die Parteiführer), endlich einmal durchbrochen wird. Nach 1945 entstand aus der Sehnsucht nach Autorität das schiefe Wort von der "Kanzlerdemokratie". Der Kanzler aber wird nicht gewählt vom Volk, nicht einmal das. Die von Schröder jetzt verlangte stetige Unterstützung durch das Parlament gibt es nicht.

 

Dr. Friedrich Karl Fromme war von 1964 bis 1997 Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", ab 1974 als Leiter Innenpolitik.


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