© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/05 08. Juli 2005

Er vertonte das Schweigen im Walde
Lektüre für Kaiser und Könige, Bauern und Fabrikarbeiter: Zum 150. Geburtstag des Groß- und Volksschriftstellers Ludwig Ganghofer
Günter Zehm

Hinter der Egerner Kirche im idyllischen Rottach-Egern am Tegernsee trifft man auf zwei schlichte Gräber, die direkt nebeneinander liegen und immer frisch geschmückt sind: die Ruhestätten von Ludwig Ganghofer (1855-1920) und Ludwig Thoma (1867-1921). Nicht erst der Tod hat "die beiden Ludwige", als die sie in Oberbayern jedermann kennt, zusammengebracht. Ihre Freundschaft zu Lebzeiten war legendär, sie stritten sich nie, teilten durch alle Zeitläufte hindurch die gleichen Vorlieben und die gleichen Abneigungen, und jeder von ihnen hat deutsche Literaturgeschichte geschrieben.

Ganghofers wird zur Zeit aus Anlaß seines hundertfünfzigsten Geburtstages am 7. Juli extra gedacht, Rottach-Egern feiert ihn und auch Kaufbeuren, seine Geburtsstadt, wo man ihm zu Ehren eine große Ausstellung arrangiert hat. Freilich, im Prospekt der Ausstellungsleitung finden sich nicht nur charmante Töne. Ganghofer sei, so heißt es, "ein schwer faßbarer Charakter" gewesen. Er habe "mangelnden politischen Instinkt" bewiesen, sei "der Schöpfer des Bayernkitschs" gewesen und habe sein Leben lang "ein Rollenspiel zwischen ländlicher Bodenständigkeit und städtischem Salonvergnügen" gespielt. Nicht gerade der passende Ton für eine Gedenkausstellung, aber so ist das heutzutage nun mal. Man "feiert", indem man sich distanziert.

Lob von Rilke, Thomas Mann und Lion Feuchtwanger

Was läßt sich guten Gewissens über Ludwig Ganghofer sagen? Zunächst einige Fakten aus dem Reich der Quantitäten: Ganghofer ist, was Auflagenzahlen, Verfilmungen und auch außerliterarisches Publikumsinteresse betrifft, einer der erfolgreichsten deutschen "Unterhaltungsschriftsteller" gewesen, wenn nicht der erfolgreichste überhaupt. An die sechzig Millionen Ganghofer-Bücher sind mittlerweile gedruckt; bereits zu seinen Lebzeiten erschienen über zwanzig Millionen. Der Zuspruch, den Ganghofer erfuhr, reichte quer durch sämtliche Gesellschaftsschichten. Bauern und Fabrikarbeiter lasen ihn mit derselben Hingabe wie Kaiser und Könige, und auf seinem Schreibtisch stapelte sich "Fanpost" aus den allerfeinsten Literatur- und Künstlerkreisen.

Man kommt aus dem Staunen nicht heraus, wenn man sich die Namen der Absender ansieht und die Hymnen liest, die folgen. Briefe von Rainer Maria Rilke sind da, von Thomas Mann, Henrik Ibsen, Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Sven Hedin, Lion Feuchtwanger, natürlich von Paul Heyse, Hermann Sudermann, Franz Defregger, Franz von Stuck. Rilke tönt: "Hochverehrter Herr Doktor! Längst war in mir der Wunsch, mich Ihnen vorzustellen ... Jetzt endlich ist die Gelegenheit gekommen, mich Ihnen nähern zu dürfen ... Darf ich Ihnen mein Lyrikbändchen 'Traumkinder' überreichen als Zeichen meiner Bewunderung und tiefen Verehrung ..."

Greift man nun zu einem der berühmten Romane, "Der Jäger vom Fall", "Schloß Hubertus", "Das Schweigen im Walde", "Der Mann im Salz", "Das große Jagen", so registriert man schnell: Hier schreibt jemand gebildetes, gut verständliches Deutsch, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Kein Sprachkünstler ist am Werk, keiner, der mit der Sprache verschwistert ist oder ihr auch nur exklusive, kostbare Wendungen ablocken will. Aber wer etwa Heinrich Mann für einen bedeutenden Schriftsteller hält, der wird auch Ganghofer einen Platz in den besseren Etagen der Literatur zuweisen müssen. Principiis obsta! Gerechtigkeit für alle Viel- und Populärschreiber, die vom sprachlichen Normalverbraucher beachtet und geliebt werden wollen!

Für Ganghofer wie für Heinrich Mann ist die Sprache Mittel zum Zweck, ein Werkzeug, das ihnen ermöglicht, interessante, der Mitteilung, wie sie glauben, werte Geschichten mitzuteilen. Zwar hat Ganghofer auch eine Autobiographie veröffentlicht, doch sonst erzählt er nicht von sich und seinen eigenen kleinen Nöten und Gebresten, sondern von übergreifenden historischen Ereignissen, als deren Chronist er sich bewähren wollte, beispielsweise von der Geschichte Berchtesgadens und seines kulturstiftenden Augustinerklosters.

Nicht weniger als sechs seiner Romane sind, in chronologischer Reihenfolge, Berchtesgaden und dem Augustinerstift gewidmet: "Der Klosterjäger" (1893), "Die Martinsklause" (1894), "Das Gottesleben" (1899), "Das neue Wesen" (1902), "Der Mann im Salz" (1905), "Der Ochsenkrieg" (1914). Hintereinanderweg gelesen, ergeben sie ein eindrucksvolles, ja, packendes Geschichtspanorama und -drama, das durchaus mit neueren Familien-Sagas à la Galsworthy konkurrieren kann.

Treue gegenüber den überlieferten Chroniken paart sich mit verblüffender Erfindungs- und Einbildungskraft. Die verbreitete Mär, bei Ganghofer gäbe es, wie bei allen "Kitschschreibern", eine säuberliche Trennung zwischen Gut und Böse und ein stereotypes Happy-End, wo der Bräutigam seine Braut glückstrahlend zum Altar führt, wird glatt widerlegt.

Man lese etwa in der "Martinsklause" über die Kämpfe der Bauern und des mit ihnen verbündeten Augustinerprobstes Eberwein gegen den Ritter Wuze und sein Geschlecht - eine finstere Romeo-und-Julia-Geschichte, in die sich mit Donner und Lawinenfall die Natur einmischt und gleichmäßig "Gute" wie "Böse" in den Tod reißt.

"Die Natur mischt sich ein", "die Natur spielt immer mit" - das ist eines der hervorstechendsten Stilmerkmale Ganghofers. Und die Natur, die er beschreibt und mitspielen läßt, ist die Welt der bayerischen und österreichischen Hochalpen, die Welt der Eisgipfel und der Bergmatten, der Gemsen, Steinböcke und jodelnden Hirtenknaben. Dem heutigen, mit "Alpenkitsch" überfütterten Leser mag das wie wohlfeiles Klischee vorkommen, doch zu Ganghofers Zeiten war es absolutes Neuland, ein literarischer Durchbruch geradezu, eine Pioniertat.

Jahrtausendelang hatten die Hochgebirge als existentielles und literarisches Anathema gegolten, als abscheuliche "Geschwüre der Erde" (tumores terrarum), wie der heilige Augustinus formulierte, als Gelände der Dämonen und der Unkultur. Man mied sie grundsätzlich, und wenn man sie auf schwierigen Paßstraßen überqueren mußte, rüstete man sich üppig mit Proviant, Gebet und innerem Anscheu gegen alle äußeren Eindrücke.

Die Tourismuswerbung ging bei ihm in die Schule

Noch zur Goethezeit war das so, trotz Albrecht von Hallers gravitätischen Lehrgedichts "Die Alpen" von 1729. Goethe selbst hatte fast gar keinen Blick für die Schönheit des Gesamtpanoramas "Alpenwelt", referierte das, was ihm auf seinen Alpenreisen widerfuhr, rein mineralogisch bzw. meteorologisch, und seine Urteile über die Alpenländler waren überwiegend herablassend, ja, sarkastisch. Und sämtliche Zeitgenossen stimmten ihm zu; Schiller mit seinem "Wilhelm Tell" war die große, geniale Ausnahme.

Erst im Gefolge der Romantik änderte sich die allgemeine Einstellung allmählich, es war ein Abwehr- und Kompensations-Affekt gegen die um sich greifende Industrialisierung und Verstädterung. Ludwig Ganghofer wurde zum literarischen Propheten der Richtung. Er pries - in der Spur von Haller - die "Reinheit" und Ursprünglichkeit der alpenländlichen Sitten, er konnte sich nicht genugtun im schauervollen Ausmalen der schroffen Bergwelten und ihrer bizarren Abgründe, die Hochgebirgsjagd schilderte er mit unendlicher Ausführlichkeit als Inbegriff männlicher Herausforderung und aristokratischer Fairness.

Wie gesagt, dem heutigen Leser mit einigem Anspruch kommt das oftmals nur noch putzig vor. Der Schriftsteller Ludwig Ganghofer war gewissermaßen allzu erfolgreich, um positiv in die Literaturgeschichte Eingang zu finden. Ihm widerfuhr, was später auch anderen Volksschriftstellern widerfahren ist: Sein geschriebenes Werk wurde vom Bild, dem im Massenzeitalter überlegenen Medium, regelrecht verschlungen, wurde Zeile für Zeile in Bilder umgesetzt, in Film- und Fernsehbilder, Ansichtspostkarten und bunte Reiseprospekte. Dadurch wurde Ganghofer zu dem, was er gerade nicht werden wollte: zum machtvollen Orientierungspunkt und Stichwortgeber der Tourismusindustrie, zum Säulenheiligen der unzähligen "Volkslied"-Sendungen im Fernsehen. Seine heutigen Inkarnationen heißen Toni Sailer und Hansi Hinterseer.

Allerdings würde das kaum genügen, um Ganghofer bei den Literaturhistorikern und Kritikern so ins Abseits zu stellen, wie es tatsächlich passiert ist. Hinzu kommt - und das verbindet ihn nun aufs engste mit seinem Lebensfreund und Todeskameraden Ludwig Thoma - sein allzeit bezeugter politischer und kultureller Konservatismus nationaler Prägung, seine unverbrüchliche Treue zum Reich, seine unüberwindliche Skepsis gegenüber den gleichmacherischen und permissiven Tendenzen der Moderne.

Geistige Schmuckstücke, aber politisch unkorrekt

Dabei waren weder Thoma noch Ganghofer in der Wolle gefärbte Anti-Modernisten. Letzterer, Sohn eines altbayerischen Forstbeamten und einer Mutter aus fränkischer Hugenottenfamilie, begann seine Berufskarriere als Maschinenbauer und lebte später viele Jahre in Wien als Dramaturg und Feuilletonredakteur des Neuen Wiener Tagblatts, wo er sich mit Vehemenz um alle neuen Bestrebungen kümmerte.

Beide, Thoma wie Ganghofer, waren gute Katholiken - mit "protestantischen Abweichungen". Sie hegten einen deutlichen Anti-Rom-Komplex, wehrten sich gegen politische Anmaßungen von seiten der Kurie und machten sich lustig über pfäffische Indolenz und Ignoranz. Es waren aufgeklärte, entschieden reichsdeutsch denkende Bayern und Patrioten, an sich geistige Schmuckstücke für jedes selbstbewußte Land, aber leider eben politisch unkorrekt nach verbreiteter heutiger Auffassung. Deshalb die uncharmanten Ausfälle im Katalog der Gedenkausstellung in Kaufbeuren.

Thoma hätte sich wohl äußerst deftig über dergleichen geäußert, hätte möglicherweise eine seiner grandiosen Gesellschaftskomödien geschrieben. Ganghofer hätte darüber wohl nur gelächelt. Er war der optimistischere von beiden. Deshalb schrieb er auch. "Alles Schreiben ist ein Ausdruck der Hoffnung", heißt es in seiner Autobiographie, die den Titel trägt: "Lebenslauf eines Optimisten".

 

Im Rahmen des Ganghofer-Jahres 2005 zeigt seine Geburtsstadt Kaufbeuren bis zum 6. November im Kunsthaus, Spitaltor 2, die Ausstellung "Der Schriftsteller Ludwig Ganghofer - Kehrseite eines Klischees". Öffnungszeiten: Täglich außer montags 10 bis 17 Uhr, Do. bis 20 Uhr, Sa./So. ab 11 Uhr. Eintritt: 4 Euro, ermäßigt 3 Euro. Info: 0 83 41 / 86 44

Foto: Ludwig Ganghofer (1855-1920): Aus den Salons von München in die frische Bergwelt


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