© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/05 08. Juli 2005

Kalte Heimat der Demokraten und Kosmopoliten
Ein rückwärtsgewandte Utopie: Jürgen Mantheys Stadtroman über Königsberg
Stephan Höck

Im Kaliningrader Restaurant "Zwölf Stühle" saß der Germanist Jürgen Manthey mit russischen Freunden in fröhlicher Runde. "Verleitet durch das Gefühl fortschreitender Vertrautheit" schwang er sich zu einem Trinkspruch auf: "Hätte Königsberg nicht 1762 russisch bleiben können, was wäre der Stadt und den Bewohnern zweihundert Jahre später nicht alles erspart geblieben!"

Ein schönes Beispiel dafür, warum der bundesdeutsche Normaltyp im Ausland einfach nur peinlich wirkt. Die russischen Reaktion auf diese Anbiederung ließ denn auch "zu wünschen übrig". Und das lag keineswegs daran, daß, wie der Alt-68er orakelt, die triste ökonomische Gegenwart der Exklave verklärende Rückschau verbot.

Vielmehr war das historische Bewußtsein der Gastgeber schärfer ausgeprägt. Denn was wäre den Königsbergern wohl erspart geblieben, wenn die fünfjährige Besetzung während des siebenjährigen Krieges 1762 kein Ende gefunden hätte? Preußens Rechts- und Kulturstaat in jedem Fall. Nicht erspart geblieben wäre ihnen zaristischer Despotismus und die brutale Russifizierungspolitik, wie sie im 19. Jahrhundert im Baltikum Einzug hielt. Und schon gar nicht die Massenmörder Lenin und Stalin, die unter der Königsberger "Bourgeoisie", dem ostpreußischen Adel und den bäuerlichen "Kulaken" zwischen Samland und Masuren kräftigst "aufgeräumt" hätten.

Manthey hat dafür kein Gespür. Seine Geschichtsfremdheit treibt ihn, nach Plätzen Ausschau zu halten, "auf denen die Kämpfe für ein anderes, besseres Deutschland ausgetragen worden und verlorengegangen waren". Solche Sehnsucht erinnert an den von Bundespräsident Gustav Heinemann Anfang der siebziger Jahren initiierten Schülerwettwerb, der zur Entdeckung der "demokratischen Geschichte" Deutschlands anspornte. Das war zwar nicht so grobschlächtig angelegt wie in der DDR, als Mär vom Klassenkampf zwischen reaktionären und progressiven Kräften, begünstigte aber ein ähnlich dichotomisch-ahistorisches Vergangenheitsverständnis. Obwohl Manthey, geboren 1932, kein Gymnasiast mehr war, scheint ihn der Geist dieser Zeit so nachhaltig beeinflußt zu haben, daß sein Königsberg-Opus nun wie ein verspäteter Beitrag zu Heinemanns Wettbewerb wirkt.

Denn "Königsberg" gerät ihm zur Chiffre des "besseren Deutschland". Seine Stadtgeschichte gleicht daher einer rückwärtsgewandten Utopie. Königsberg, dies seine zentrale These, die 700 Jahre deutscher "Urbanität" im Nordosten des Reiches verklammert, sei eine "Weltbürgerrepublik" gewesen. Also ein Gemeinwesen, das die "kalte Heimat" von Demokraten und Kosmopoliten war. Kant ist der Hauptrepräsentant "geselliger Vernunft", "emanzipierter Bürgergesellschaft" und öffentlichen "Freiheitsdiskurses". Deren Einzigartigkeit ergab sich daraus, daß Universität, bürgerliches Stadtregiment und staatliche Beamtenschaft hier "ins Gespräch" kamen.

Anders als in Handelsmetropolen wie Danzig oder Stettin, denen die Universität fehlte, anders als in den Universitätsstädten Kiel oder Rostock, die keine Regierungsbehörden beherbergten, war im deutschen Ostseeraum allein hier eine Kommunikationskultur möglich, in der theoretische und praktische Vernunft einander beflügelten. Deshalb sei diese Stadt "Ort und Hort des Liberalismus und Republikanismus" in Preußen geworden, Sammelpunkt aller Opposition gegen das monarchistisch-zentralistische Regiment in Berlin-Potsdam. Überhaupt sei am Pregel das "geistige Deutschland" erfunden worden: Aufklärung, Romantik, Demokratismus und Liberalismus seien dort entsprungen, die Sozialdemokratie, so behauptet Manthey mit Blick auf Hugo Haase und Otto Braun, sei dort fester verwurzelt gewesen als anderswo.

Nicht nur ahnungslose Claqueure wie die Rezensenten der Frankfurter Rundschau (Ausgabe vom 16. März) und der Neuen Zürcher Zeitung (25. Mai) bejubeln diesen Schematismus. Auch Eckhard Fuhr findet das mit der "Weltbürgerrepublik" zwar "ein bißchen übertrieben", preist aber diesen "Bauplan des geistigen Königsberg" (Literarische Welt, 12. Mai). Oskar Negt akzeptiert Mantheys Mythos zum Nennwert (ZeitLiteratur, Mai 2005), während Eberhard Rathgeb nur schüchtern moniert, daß man wenig über den Einfluß der Stadt auf die individuelle Entwicklung von Mantheys Protagonisten erfahre (FAZ, 28. Februar), und Heinz Schlaffer mutiger bemäkelt, daß ausgerechnet ein Linker Real- und Sozialgeschichte zugunsten einer auf "große Geister" fixierten Ideengeschichte ignoriere (Süddeutsche Zeitung, 15. März).

Auffällig ist, daß niemand sich an der Unzahl sachlicher Fehler stößt. Als arg unzuverlässig ragen dabei Mantheys Datierungen heraus. Gleich eingangs verlegt er die 1947 von den Alliierten verfügte Auflösung Preußens auf 1946. Bismarcks Geburtstag, der 1. April 1815, fällt auf den 12. Juni, Rudolf Borchhardts Geburtsjahr auf 1876 statt 1877, für die Schlacht von Jena-Auerstädt darf man wählen zwischen dem 14. Juni und dem 14. Oktober 1806, das Leben des Staatskanzlers Hardenberg verlängert der Autor etwas, wenn er ihn 1823 statt 1822 sterben läßt, während der Philosoph Richard Quäbicker zu früh, 1877 statt korrekt 1882, das Zeitliche segnet.

So ließe sich lange fortfahren. Doch mag man Manthey Laxheit im Umgang mit chronologischen, topographischen oder bibliographischen Details ruhig zubilligen. Solche Fehlleistungen begründen nur einen Anfangsverdacht gegen die Seriosität des Autors, erschüttern aber sein Konstrukt "Weltbürgerrepublik Königsberg" nicht.

Zu diesem Zweck wäre sein extremer Reduktionismus zu dekonstruieren. Für die ersten hundert Seiten, in denen Manthey 450 Jahre Stadtgeschichte durcheilt, ist der Aufwand dafür freilich gering. Sie geben für seine Hauptthese nicht viel her. Und ständische Rebellion, wie im 17. Jahrhundert gegen den großen Kurfürsten, war keine Königsberger Besonderheit. Als erster eigentümlicher Exponent des Pregel-Republikanismus tritt daher erst Johann Christoph Gottsched (1700-1766) auf: ein Anti-Preuße ganz nach des Autors Geschmack. Floh er nicht 1724 vor den Werbern des Soldatenkönigs nach Leipzig, ist sein Drama "Sterbender Cato" (1732) nicht zu lesen als gegen den Potsdamer "Cäsar" gerichtet? Tatsächlich war, dokumentiert in der von Manthey ignorierten Monumentalbiographie des Königsbergers Eugen Reichel (1908/12), die Angst, zu den "Langen Kerls" gepreßt zu werden, nur ein Vorwand, um aus dem rückständigen heimatlichen Milieu dem geistigen Mittelpunkt Deutschlands zuzueilen. Und der "Cato" ist kein antipreußisches, sondern ein antifranzösisches Stück. Manthey selbst räumt ein, aus einem Sparta-Drama Gottscheds spreche "preußischer Sozialismus", zudem sei er ein Bewunderer Friedrich des Großen gewesen.

Ebenso inkonsistent ist die Hamann-Deutung. Der "Magus in Norden" figuriert als "Radikalbürger", doch dessen "Widerspruchsgeist" richtete sich, dies nur beiläufig-verschämt zitiert, gegen das "judaisierende Geschmier" in Berlin, der Hauptstadt der Aufklärung und ihren Patron Moses Mendelssohn. Herder, der Entdecker des "Volksgeistes" und angeblich "gefühlsmäßige Wegbereiter der Postmoderne", ist als Kritiker aufklärerisch-universalistischer Vernunft- und Fortschrittsideologie auch kein Patentkosmopolit. Was den Franzosenhasser Heinrich von Kleist, der nur zwei Jahre in Königsberg weilte, mit dem für kosmopolitisch erklärten genius loci der Stadt verbindet, bleibt unklar.

Das Phänomen, daß Königsberg nach 1848 Hochburg des "Freisinns" war, daß "Radikaldemokraten" wie Johann Jacoby aber in den eigenen Reihen bereits als weltfremde Doktrinäre galten, daß Nationalliberale und Konservative nach 1866 die "kulturelle Hegemonie" ausübten, läßt die Geschichte von Mantheys Weltbürgerrepublik auf den Zeitraum von 1750 bis 1850 schrumpfen - bestenfalls, wenn man ihm die Versimpelungen von Hamann, Herder et al. großzügig konzedierte.

Das zwanzigste Jahrhundert wäre vielleicht überhaupt schweigend zu übergehen. Denn welches Bild von der Kultur der Weimarer Republik mag jemand haben, der drucken läßt, Thomas Mann sei einer der "wenigen Schriftsteller" gewesen, die sich zu ihr bekannten? Oft führt blankes Ressentiment die Feder. Ernst Wiechert, als Republikfeind zum Antipoden Manns stilisiert, wird als Schwindler "entlarvt", weil er 1929 nicht, wie er in seinen Memoiren angebe, in einer "Dachkammer", sondern in seiner "gutbürgerlichen Wohnung auf den Hufen" lebte. Dabei zog Wiechert während einer Ehekrise tatsächlich in besagte Dachkammer. Aber mangelnde "Wahrhaftigkeit" paßt hier eben besser ins Konzept vom vermeintlichen frühen NS-Sympathisanten Wiechert, der "beim Zugrunderichten" Weimars eine "entscheidende Rolle gespielt" habe.

Mit solcher Schwarzweiß-Malerei ist der kompositorische Tiefpunkt aber noch nicht erreicht. Die Interpretation des weltanschaulichen Gehalts in Agnes Miegels Dichtung bot sich dafür an. Doch trotz polemischer Üblichkeiten ("Stadt- und Zivilisationshaß" usw.), beweist Manthey Feingefühl, wenn er auf das "Liebesverbot" verweist, das sich Miegel früh auferlegte und das ihre "Sehnsucht nach dem Autoritären" erkläre. Nein, den Gang hinab, auf das niedrigste Niveau, hebt er sich für das Geistesleben nach 1933 auf. Schon der Titel "Willfährige Gelehrte" (Hans Rothfels, Theodor Schieder, Werner Conze, Arnold Gehlen) verkündet, daß es ein solches aus Mantheys Sicht gar nicht mehr gab. Man lese nur die zehn Zeilen, in die er Gehlens Jahrhundertbuch "Der Mensch" preßt. Mittels weniger Reizvokabeln ("Führungssystem", "Zuchtbilder") suggerieren sie, es handle sich um einen Anhang zu Rosenbergs "Mythus". Da schöpft jemand aus vierter Hand, tradiert Klischees, die aus dem SED-"Braunbuch" stammen, dessen Veröffentlichung in die für Mantheys geistige Entwicklung - soll man sagen: verhängnisvolle? - Zeit um 1968 fällt.

Bei allen diesen kapitalen Schwächen und ungeachtet der porösen Hauptthese vom kosmopolitisch-weltoffenen Königsberg bleibt unterm Strich nur anzuerkennen, daß Manthey die Pregelstadt pünktlich zu ihrem 750jährigen Gründungsjubiläum wieder ins Gespräch bringt.

Jürgen Manthey: Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik. Carl Hanser Verlag, München 2005, 736 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro

Foto: Königsberg aus der Flugschau, um 1930: Poröse Hauptthese von der kosmopolitisch-weltoffenen Metropole am Pregel


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