© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/05 22. Juli 2005

"Vertreibung ist ein Verbrechen"
Der Historiker Krisztián Ungváry, Beirat des Zentrums gegen Vertreibungen, über das Gedenken sechzig Jahre danach
Moritz Schwarz

Herr Dr. Ungváry, Sie sind Mitglied im Beirats des Zentrums gegen Vertreibungen (ZgV). Warum wollen Sie "ein falsches Bild von der Geschichte des 20. Jahrhunderts vermitteln", beziehungsweise "Ursache und Wirkung verdrehen" wie der polnische Präsidentschaftskandidat Lech Kaczynski und der ehemalige tschechische Ministerpräsident Wladimir Spidla mit Blick auf das ZgV fürchten?

Ungváry: Ich kann mit der Frage nichts anfangen, denn sie beinhaltet die Unterstellung, daß ich etwas falsch darstellen will.

Genau mit dieser Unterstellung der genannten Herrn möchten wir Sie konfrontieren!

Ungváry: Es geht uns keineswegs darum, historische Zusammenhänge falsch darzustellen. Es fragt sich vielmehr, ob nicht genannte Herrn das tun, wenn Sie historische Tabus aufstellen. Unsere Tätigkeit und die Ziele des ZgV sind wissenschaftlich angelegt. Sie können auch wissenschaftlich diskutiert werden. Das tun Spidla und Kaczynski jedoch nicht. Sie nehmen einfach keine Kenntnis davon, welche Ziele das ZgV hat, beziehungsweise welche Texte darüber veröffentlicht wurden. Außerdem sieht man schon an einer Formulierung wie "Ursache und Wirkung", daß Kaczinsky, Spidla und ihre Gesinnungsgenossen die Vertreibungen offenbar noch immer als eine doch irgendwie nachvollziehbare Strafe für die NS-Diktatur bewerten. Damit beweisen sie aber nur, daß sie keine Ahnung vom historischen Hintergrund der Vertreibungen haben.

Und der wäre?

Ungváry: Die Vertreibung der Deutschen ist nicht als Strafe für die NS-Verbrechen geschehen, sondern weil die Täter einen homogenen Nationalstaat schaffen wollten. Auch vor Hitler hatte man die Deutschen loswerden wollen, nur die vor dem Zweiten Weltkrieg eingesetzten Mittel waren weniger rigide und erwiesen sich als nicht ausreichend für diesen Zweck. Die NS-Verbrechen gaben dann nur international die Möglichkeit, diese Pläne zu verwirklichen.

Wie erklären Sie sich, daß diese Umstände in den deutschen Medien - auch heute, sechzig Jahre nach der Vertreibung - nicht vorkommen und folglich der breiten Öffentlichkeit in Deutschland unbekannt sind?

Ungváry: Das resultiert aus der verbreiteten, aber falschen Sichtweise, vor allem die NS-Zeit wahrzunehmen - alles andere wird dann natürlich uninteressant.

Sie bestätigen die - von vielen als Provokation empfundene - ursprüngliche Idee des ZgV, daß die Opferschaft der Deutschen nicht in erster Linie etwas mit ihrer Täterschaft zu tun hat?

Ungváry: Historische Tatsachen bestehen unabhängig davon, welcher politischen Partei oder welchem gesellschaftlichen Zeitgeist sie gerade nützen. Außerdem entlastet ein Hinweis auf polnische und tschechische Verbrechen die Deutschen keineswegs, wie das von gewissen Kritikern immer wieder anklagend unterstellt wird. Die Absurdität dieser Konstruktion wird schon daran deutlich, daß die Verbrechen des NS-Regimes schließlich vor den tschechischen und polnischen Verbrechen passiert sind: sie können deshalb nicht mit späteren Verbrechen anderer "entlastet" werden.

Es sind also allein diese Kritiker, die diesen Zusammenhang herstellen, nicht das ZgV?

Ungváry: Eben! Ich wiederhole: Zwischen den Verbrechen der Deutschen einerseits und denen der Polen, Tschechen, etc. andererseits besteht nur insofern eine "kausale" Verbindung, als die einen für die anderen zum Vorwand genommen wurden. Es ist schrecklich naiv zu glauben, ohne NS-System hätte Benes keine homogene Tschechoslowakei angestrebt. Warum hat er sonst seit Bestehen des tschechoslowakischen Staates sowohl die Deutschen als auch die Ungarn und - etwas weniger - die Ruthenen diskriminiert? Warum geschehen bis heute Vertreibungen, und zwar vor unseren Augen? Jugoslawien ist das beste Beispiel, daß auch ohne Nationalsozialismus Völkermord und Vertreibung möglich sind.

Dennoch ist für die meisten Journalisten, Politiker und Historiker in Deutschland das Benennen der Verbrechen an den Deutschen ohne den Hinweis auf die Verbrechen der Deutschen ein Ding der Unmöglichkeit.

Ungváry: Vermutlich, weil mancher Deutscher unterschwellig von sich immer einen Beweis des Extremen braucht: eine Art von Unübertrefflichkeit. Daß erinnert mich etwas an "früher".

Wenn die Befürchtungen Kaczinskys und Spidlas historisch nicht stichhaltig sind, was fürchten Polen und Tschechen dann?

Ungváry: Wahrscheinlich dasselbe, was die Deutschen nach 1945 gefürchtet haben, als es um ihre Verantwortung ging: moralische und materielle Konsequenzen. Ersteres ist berechtigt, letzteres eine Wahnvorstellung.

Was meinen Sie mit "Wahnvorstellung"?

Ungváry: Mir ist es nicht bekannt, daß relevante Kräfte in Deutschland eine hundertprozentige Wiedergutmachung fordern. Immer ging es um symbolische Gesten - die jedoch auch verwehrt wurden.

Warum wäre eine Entschädigung unmöglich?

Ungváry: Eine totale materielle Entschädigung ist sowohl praktisch unmöglich, als auch ohne Präzedenzien. Und ich muß auch sagen, daß angesichts des Lebensstandards in Deutschland - verglichen mit dem in der Tschechei oder in der Slowakei - von einer sozialen Not der Vertriebenen nicht mehr gesprochen werden kann. Es kann daher immer nur um symbolische Summen gehen. Das Leiden zu entschädigen ist angesichts des riesigen Verbrechens der Vertreibung ein Ding der Unmöglichkeit. Zudem: Die Sachwerte in Schlesien und in Ostpreußen, die zu entschädigen wären, sind nicht nur ihrem finanziellen Volumen nach viel zu groß. Polen müßte in der Folge mit gleichem Recht dieselbe Entschädigung von der Ukraine und von Weißrußland einfordern. Das ist jedoch aus politischen Gründen unmöglich.

Handelt es sich bei der Kritik aus Prag und Warschau auch um ein Problem des polnischen und tschechischen Nationalismus?

Ungváry: Jeder muß sich mit der eigenen Schuld auseinandersetzen, und zwar davon unabhängig, wie das andere tun. Deutschland hat hier Beispielhaftes geleistet. Mögen Polen und Tschechen auch so viel zur Völkerverständigung beitragen, wie das die deutsche Seite getan hat. Ich kann aber auch das ungarische Beispiel empfehlen. Ungarn hat alle - sowohl die NS-Opfer als auch die Opfer des kommunistischen Systems und die Opfer der Vertreibungen - nach den gleichen Kriterien entschädigt. Das hat uns viel mehr gebracht, als es uns gekostet hat.

Warum unterstützen Sie als Ungar das ZgV?

Ungváry: Aus denselben Erwägungen, weshalb ich auch die Initiative des SPD-Bundestagsabgeordneten Markus Meckel (JF 14/02) unterstützt habe. Es kann keine geteilte Erinnerung geben. Erinnern müssen sich nicht nur die Opfer, sondern auch die Nation selbst. Erinnerungsarbeit ist also nicht nur die Aufgabe der Vertriebenenverbände. Es trägt zur Verständigung bei, wenn eine Nation sich nicht nur an ihre Verbrechen, sondern auch an ihre Opfer erinnert.

Bei der Meckel-Initiative ging es, ebenso wie bei der alternativen Konzeption eines Netzwerks gegen Vertreibung, um eine "Europäisierung" des Themas. Sie haben gerade die Notwendigkeit eines spezifischen, also eines "nationalen" Erinnerns betont. Wenn das ZgV also eine "Nationalisierung", das Netzwerk aber eine "Europäisierung" bedeutet, wie können Sie dann beide Konzepte gleichzeitig unterstützen?

Ungváry: Das ZgV kann und möchte ein Teil des Netzwerks sein. Übrigens sind alle Teile des Netzwerks, also die teilnehmenden Institutionen, eigentlich ja national angelegt. Jedes Land schreibt seine Geschichte national. Was ist daran zu beanstanden? Die zwei Projekte gegeneinander ins Feld zu führen, finde ich falsch. Außer der Standort-Debatte gibt es keinen Widerspruch zwischen den Inhalten der beiden Konzepte.

Warum lehnt dann der Bundeskanzler, ebenso wie die Berliner Landesregierung, das Zentrum zugunsten eines europäischen Netzwerkes ab?

Ungváry: Das frage ich mich auch, mir erscheint diese Debatte als völlig unsinnig.

Es handelt sich um eine geschichtspolitische Debatte, in deren Mittelpunkt die Frage steht, ob man die Deutschen als "vollwertige" Opfer eines durch nichts zu legitimierenden Verbrechens betrachten darf. Um diese Sichtweise zu verhindern, gibt es zwei Strategien: "nicht von deutschen Opfern sprechen" (Europäisierung) oder "nicht von fremden Verbrechen sprechen" (Koppeln der Vertreibung an NS-Verbrechen).

Ungváry: Das ist eine völlig falsche Sichtweise, die nichts mit den Inhalten der Netzwerklösung zu tun hat. Ich finde den ganzen, in der Frage erwähnten Gedankengang dumm. Kollektive Strafen sind nicht zulässig. Außerdem ist auch ein aus Rache begangener Mord noch immer ein Mord. Und zuletzt: Warum haben etwa die Ungarn in der Slowakei, oder die Ukrainer in Polen dieselbe "Strafe", sprich Vertreibung, erhalten wie die Deutschen?

Gute Frage, die in Deutschland leider nicht diskutiert wird. Sehen Sie eine geschichtspolitische Diskriminierung der Vertriebenen, auch was die Debatte über das ZgV angeht?

Ungváry: Bitte bedenken Sie, daß die Deutschen den besten Ruf unter allen Vertriebenen-Nationen haben, ehe sie hier von Diskriminierung sprechen. Vergleichen Sie diesen Ruf mal mit dem der Palästinenser. Bei denen gibt es noch einiges an politischen Vorstellungen und Methoden zur Durchsetzung, wovon die deutschen Vertriebenenverbände - zum Glück - nicht einmal träumen.

In Deutschland allerdings werden die Vertriebenen in weiten Kreisen der Öffentlichkeit bestenfalls ignoriert, wenn nicht als "Ewigge-strige" und "Revanchisten" behandelt.

Ungváry: Über dieses Thema zu sprechen, sind die Deutschen selbst kompetenter, als ich. Ich möchte nur soviel sagen: Es ist nicht leicht, aus einem Extrem in die Normalität zurückzufinden. Tabuisiert wurde die Vertreibung insofern, als noch in den achtziger Jahren die "feine Gesellschaft" und ihre offiziellen Vertreter sich des Themas nicht annehmen wollt: es sei Sache der Betroffenen, daran zu gedenken. - Das war eine Kündigung des nationalen Zusammenhaltes.

Auf der Konferenz von Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945, die sich jetzt zum 60. Mal jährt (siehe Beitrag Seite 20), wurde de facto die Zerstückelung Deutschlands beschlossen. Heute erscheinen die Alliierten als gerechte Siegermächte. Täuscht dieser Eindruck?

Ungváry: Erstens, die Darstellung der Konferenzbeschlüsse greift zu kurz. Zweitens erscheinen die Alliierten nicht nur heute als gerechte Siegermächte, so erschienen sie auch im Jahre 1945. Und moralisch-politisch und historisch gesehen trifft das auf die Westalliierten auch zu.

Haben die Westalliierten denn wirklich Grund zu feiern? Stellt die Konferenz nicht ihren moralischen Bankrott und den Verrat an den von ihnen proklamierten Werten dar?

Ungváry: Die Vertreibung war und ist ein Verbrechen. Daran ist nichts zu ändern. Sie allerdings den Westalliierten anzulasten, wie das die Frage tut, ist Demagogie. Diese haben eine ganz andere Verantwortung, als die UdSSR oder die Vertreiberstaaten. Lesen Sie die Beschlüsse: sie beinhalten nur Optionen. Das heißt, sie fordern keine Vertreibung.

Sie deckten sie "nur".

Ungváry: Ja, aber das ist ein Unterschied. Es zeigt, daß die Hauptschuld nicht bei den Westalliierten liegt, weil sie die Vertreiberstaaten nicht genötigt haben zu vertreiben. Heute verstecken sich diese mitunter gern hinter "Potsdam" - das ist unredlich.

Man hat die Vertreibung in Kauf genommen.

Ungváry: Das taten die Westalliierten, allerdings teils mit Widerwillen. Es wäre andererseits falsch zu glauben, sie hätten die Vertreibung verhindern können.

Sie haben sie nicht nur in Kauf genommen, sie haben sie gebilligt! Bester Beweis ist die Vereinbarung der Oder-Neiße-Linie.

Ungváry: Die eine "Annexionsgrenze" sein sollte, was aber nicht ausdrücklich Vertreibung beinhaltet. Kritikwürdig ist sicherlich, daß die Westalliierten die Augen davor verschlossen haben, daß es nicht nur bei einer "Annexion" bleiben würde.

Welchen Einfluß hat die Political Correctness auf den Umgang mit dem Thema Vertreibung?

Ungváry: Da kommt es natürlich zu peinlichen "Vorfällen", zum Beispiel wenn die Bild-Zeitung die Vertreibung mit einer Karte illustriert, die Deutschland 1945 in den Grenzen der heutigen Bundesrepublik zeigt. Es wäre jedoch absolut einseitig, so zu tun, als ob in Deutschland nur in diesem Stil diskutiert werden würde. In keinem Land der Welt gibt es solche Diskussionen ohne falsche Töne. Die Entwicklung in Deutschland ist jedoch gerade auf diesem Gebiet beispielhaft für andere Länder.

In den Massenmedien und der etablierten Politik wird das Thema in der Tat in diesem Stil diskutiert! Kostprobe? Nach Ansicht von Bundeskanzler Schröder zum Beispiel war "Kaliningrad jahrhundertelang mit der deutschen Geschichte verbunden".

Ungváry: Der Bildungsstand vieler Politiker - denken wir etwa an George Bush - ist noch wesentlich dürftiger, als der von Schröder. Sie sollten sich über die Zustände in Deutschland auch freuen können. Solche Idiotien sondern auch osteuropäische Politiker mitunter ab.

Ist diese Political Correctness ein europaweites Phänomen? Stichwort: Streit um das ungarische Terrormuseum in Budapest.

Ungváry: Ja, aber im verkehrten Sinne. Es gibt nicht nur eine linke Political Correctness, sondern auch eine rechte. Diese ist jedoch in Deutschland unbekannt, in der Slowakei, in Rumänien oder in Serbien dafür um so bekannter. Das Terrormuseum in Budapest ist eine verlogene Institution, die massiv Geschichtsfälschung betreibt. Hintergrund dieser Geschichtsfälschung ist das Streben nach einem sterilen Bild der Nation, die immer nur durch andere in Schuld geraten ist. Diese Sichtweise ist genauso extrem und schädlich wie die Behauptung, an allem sei NS-Deutschland schuld.

Wie geht Ungarn mit der Vertreibung um? Einerseits wurden Ungarn selbst Opfer von Vertreibung, andererseits vertrieb Ungarn nach 1945 seine Deutschen.

Ungváry: Dazu gibt es - zum Glück aller Beteiligten - bei uns sehr viel an Literatur und an Erinnerungsarbeit. Man bittet um Vergebung, man lädt die Vertriebenen ein, man zahlt ihnen eine symbolische Entschädigung. Daß unser Land von diesen Gesten sehr stark profitiert hat, und daß eine symbolische und materielle Entschädigung gerade Ungarn viel materiellen Nutzen gebracht hat, ist unbestritten. Es würde mich sehr freuen, wenn unsere Nachbarn diesem Beispiel folgen würden.

 

Dr. Krisztián Ungváry Der Historiker ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des "Zentrums gegen Vertreibungen" und ungarischer Delegierter des "Europäischen Netzwerks gegen Vertreibung". Ungváry machte sich 1999 einen Namen, als er zusammen mit dem polnischen Historiker Bogdan Musial die Hamburger "Wehrmachtsausstellung" zahlreicher Fehler überführte, in deren Folge die Schau schließen mußte. Von der Stiftung des Kriegsgeschichtlichen Instituts in Budapest erhielt er 1999 die Auszeichnung "Militärhistoriker des Jahres". Geboren wurde er 1969 in Budapest. Auf deutsch erschien bislang sein Buch "Die Schlacht um Budapest 1944/45 - Stalingrad an der Donau" (Herbig, 1999).

 

weitere Interview-Partner der JF


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen