© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/05 22. Juli 2005

Überraschungen nicht ausgeschlossen
Versuch einer Bilanz: Drei Monate nach der Wahl von Papst Bendikt XVI. zeichnen sich erste Konturen seines Pontifikats ab
Alain de Benoist

Die Nachricht von der Wahl des "Panzerkardinals", wie ihn prompt einige Medien tauften, zum neuen Papst ist in traditionalistischen Kreisen freudig und in "progressiven" Kirchenkreisen mit einer gewissen Verstörung aufgenommen worden. Joseph Ratzinger haftete der Ruf eines "Ultrakonservativen" an, der für die umstrittensten Aspekte der Lehre seines Vorgängers Johannes Paul II. verantwortlich gemacht wird. Dieses Urteil, das sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen ist, gilt es dennoch zu differenzieren.

Es wäre ein Irrtum, Vorhersagen über die Amtszeit Benedikts XVI. allein auf der Grundlage seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation (der früheren "Heiligen Inquisition") zu treffen. Gewiß ist es viel zu früh, um sich ein Urteil über sein Pontifikat zu bilden. Jedoch lassen sich drei Monate nach seiner Wahl einige erste Hypothesen aufstellen.

Wähernd sich die Amtsführung Benedikts XVI. allen Anzeichen nach im Stil von der seines Vorgängers unterscheidet, weist in Fragen der Doktrin dagegen alles darauf hin, daß der Papst entschlossen an den Positionen festhalten wird, die schon Johannes Paul II. im Hinblick auf Ehe und Familie, Abtreibung, Verhütung, Sterbehilfe, gleichgeschlechtliche Beziehungen, Genforschung etc. vertrat. Zweifellos sind zudem Vorstöße in die Richtung traditionalistischer Kreise zu erwarten, etwa in Form von Entscheidungen zur Liturgie, deren Tragweite momentan noch nicht abzusehen ist.

Gleichermaßen wahrscheinlich ist allerdings, daß Benedikt XVI. die Bewegung der Kirche hin zum Gedanken der "subjektiven Rechte" beschleunigen wird, der den Eckstein der Menschenrechtsideologie ausmacht. In seinem berühmten Zwiegespräch mit Jürgen Habermas am 19. Januar 2004 in München bekräftigte der zukünftige Papst bereits vehement, die Menschenrechte seien "nicht verständlich ohne die Voraussetzung, daß der Mensch als Mensch, einfach durch seine Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, Subjekt von Rechten ist, daß sein Sein selbst Werte und Normen in sich trägt, die zu finden, aber nicht zu erfinden sind". Diese Aussage markiert einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte der katholischen Doktrin.

"Versöhnung" zwischen Juden und Katholiken

Bereits in seiner ersten Ansprache an die Kardinäle betonte der neue Papst die Notwendigkeit, die Bemühungen der Katholischen Kirche um die Ökumene zu verstärken und insbesondere dem "Dialog" mit dem jüdischen Volk Priorität einzuräumen.

Am 19. April sandte Benedikt XVI. eine Botschaft an die jüdische Gemeinde von Rom, in der er sich dazu verpflichtete, den von seinem Vorgänger Johannes Paul II. eingeschlagenen Weg der "Versöhnung" zwischen Juden und Katholiken weiterzugehen. Drei Wochen später, am 8. Mai, gratulierte er dem emeritierten Großrabbiner von Rom, Elio Toaff, mit überaus herzlichen Worten zu dessen 90. Geburtstag. Toaff hatte am 13. April 1986 Johannes Paul II. in der Synagoge von Rom begrüßt, der erste Besuch eines Papstes in einer jüdischen Glaubensstätte. Neben dessen persönlichem Sekretär Stanislaw Dziwisz ist er der einzige Mensch, der im Testament des jüngst verstorbenen Papstes namentlich erwähnt wird.

Am 9. Juni empfing Benedikt XVI. bei seiner ersten interreligiösen Audienz eine Delegation der wichtigsten globalen jüdischen Organisationen unter Führung des amerikanischen Rabbis Israel Singer, der auch der Franzose Ady Steg, Vorsitzender der Allgemeinen Israelitischen Allianz, und der Vorsitzende des Jüdischen Weltkongresses Edgar Bronfman angehörten. Den Verlauf der Audienz, bei der der neue Papst seinen Zuhörern seine Bereitschaft versicherte, "entscheidende Schritte in der Entwicklung der Beziehungen zum jüdischen Volk" zu unternehmen, bewerteten die Delegationsmitglieder äußerst positiv. Rabbi David Rosen sagte, der Empfang sei "noch wärmer" gewesen als zu Zeiten Johannes Pauls II.

Darüber hinaus hat der neue Papst angekündigt, bei seiner Deutschlandreise anläßlich der Internationalen Jugendtage im August auch die Kölner Synagoge zu besuchen. Am 27. Oktober will er den 40. Jahrestag der Deklaration "Nostra Aetate" feierlich begehen, mit der das Zweite Vatikanische Konzil 1965 endgültig mit dem christlichen Antijudaismus und der Substitutionstheologie (die Kirche als "Verus Israel") brach.

Bezeichnend ist auch die Debatte, die sich an der Person Pater Léon Dehons (1843-1925) entzündet hat, Pionier des Sozialkatholizismus und Gründer der Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester, der am 24. April dieses Jahres von Johannes Paul II. seliggesprochen werden sollte. Benedikt XVI. hat die Seligsprechung ausgesetzt und eine Kommission mit der "Überprüfung" des Dossiers beauftragt. Grund sind einige antisemitische Abschnitte in Pater Dehons Buch "Die christlich-soziale Erneuerung" (1898). In der jüngeren Geschichte der Katholischen Kirche ist dies ein beispielloser Vorgang. Der Generaldirektor des Rates der jüdischen Institutionen Frankreichs, Haïm Musicant (CRIF), hat die Entscheidung begrüßt.

Erzbischof Levada gilt als gemäßigter Konservativer

Wenngleich die Entschlossenheit des neuen Papstes offensichtlich ist, sich zuvorderst für den "jüdisch-christlichen Dialog" einzusetzen, bleibt doch einigermaßen nebulös, welche Erfolge dieser Dialog zeitigen könnte. Strittig ist insbesondere die Forderung des Heiligen Stuhls nach Umsetzung der Uno-Resolution, die für die Altstadt Jerusalems einen internationalen Status vorsieht, der die heiligen Stätten aller drei monotheistischen Religionen schützt. Einen weiteren Streitpunkt stellt die Seligsprechung Papst Pius' XII. dar, dem die Juden sein "Schweigen" gegenüber den Judenverfolgungen im Dritten Reich vorwerfen.

Auch das Verhältnis des Vatikans zu den Vereinigten Staaten gilt es in den kommenden Jahren aufmerksam zu beobachten. Besonderes Augenmerk verdient dabei die Berufung des amerikanischen Erzbischofs William Levada an die Spitze der Glaubenskongregation, auf jenen Posten also, den Ratzinger vor seiner Wahl zum Papst selber 23 Jahre lang bekleidete.

Der gebürtige Kalifornier irisch-portugiesischer Abstammung studierte in Rom, wo er 1961 zum Priester ordiniert wurde. 1986 wurde er Erzbischof der Stadt Portland im Bundesstaat Oregon, 1995 Erzbischof von San Francisco. Von 1986 bis 1993 gehörte er als einziger amerikanischer Bischof der vom Vatikan eingesetzten Kommission an, die unter Ratzingers Führung die Neuauflage des Katechismus der Katholischen Kirche erarbeitete. Der Glaubenskongregation trat er auf Empfehlung des früheren Vorsitzenden der amerikanischen Bischofskonferenz Joseph Bernardin bei. Seit 2003 ist er zudem Vorsitzender des Committee on Doctrine der US-amerikanischen Konferenz Katholischer Bischöfe.

Zur Erklärung für diese Berufung, die viele Beobachter überrascht hat, ist immer wieder Levadas Ruf als konservativer Theologe herangezogen worden. Die wahren Gründe sind zweifellos komplexer.

Bischof Levada ist keineswegs der "größte Traditionalist im amerikanischen Episkopat", sondern vielmehr ein gemäßigter Konservativer. In seinen zehn Jahren als Erzbischof der äußerst liberalen Stadt San Francisco ist er vor allem durch seine pragmatische Haltung in heiklen Punkten aufgefallen. Für die Debatte um gleichgeschlechtliche Ehen gilt dies ebenso wie für die Frage, ob Priester Politikern die heilige Kommunion erteilen sollen, die für Abtreibungsgesetze gestimmt haben. In beiden Fällen gelang es Levada, den Prinzipien der Kirchendoktrin zu folgen und sich dennoch kompromißbereit zu erweisen. Diese "umsichtige Praxis" gestattete ihm, eine direkte Konfrontation mit der öffentlichen Meinung zu vermeiden und den Druck zu verringern, der durch die zahlreichen Prozesse gegen pädophile Priester auf der amerikanischen Kirche lastet.

Überdies hat sich Levada Kritik seitens der Familien sexuell mißbrauchter Kinder ausgesetzt, die ihm vorwerfen, ihm sei mehr daran gelegen, die Justiz in ihrer Arbeit zu behindern und die Vergehen gewisser Kleriker und Prälaten zu verschleiern, als den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen. Die Diözese von Portland, die er neun Jahre lang leitete, ist durch die gerichtlich erwirkten Entschädigungszahlungen an die Opfer solchen Mißbrauchs mittlerweile bankrott.

Gewicht der US-Katholiken wird weiter zunehmen

Warum hat Benedikt XVI. diesen überaus wichtigen Posten - der Präfekt der Glaubenskongregation ist die "Nummer zwei" der Weltkirche - einem amerikanischen Prälaten anvertraut statt einem der anderen möglichen Kandidaten? Zu den Favoriten zählte etwa der Wiener Kardinal Christoph Schönborn, eines der prominentesten Mitglieder des Kardinalskollegiums. Levada dagegen ist außerhalb der USA kaum bekannt. Ging es dem Papst also ausdrücklich darum, einen Amerikaner zu fördern? Berichte, denen zufolge er den Kardinal von Chicago, Francis George, ebenfalls in Erwägung zog, bestätigen diese Hypothese.

Tatsächlich scheint die Berufung Levadas das Interesse zu reflektieren, das der neue Papst der amerikanischen katholischen Kirche entgegenbringt. In seinem als "Gott und die Welt" (Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2000) erschienenen Gespräch mit Peter Seewald sagte der zukünftige Papst unter anderem: "Der (US-)amerikanische Katholizismus ist heute zu einer der bestimmenden Kräfte in der Weltkirche geworden. ... So glaube ich, daß sowohl durch den großen weltlichen Erfahrungsraum, den die Kirche in Amerika hat, wie auch durch die Glaubenserfahrungen, die sie macht, prägende Kräfte auf die europäische und auch auf die afrikanische und asiatische Christenheit übergehen können."

Dafür gibt es zwei denkbare Gründe. Zum einen ist nicht auszuschließen, daß das rapide demographische Wachstum der größtenteils katholischen Bevölkerungsgruppe hispanischer und lateinamerikanischer Abstammung in den USA letztendlich die Katholische Kirche zur einflußreichsten Kirche der wichtigsten Weltmacht macht - eine Perspektive, der sich der neue Papst selbstverständlich bewußt ist. Hinzu kommt, daß der Schwerpunkt der Katholischen Kirche inzwischen in Lateinamerika liegt, während die europäischen Staaten weltweit nurmehr 25 Prozent aller Katholiken ausmachen.

Bündnis gegen den Einfluß des Islam in Schwarzafrika

Der zweite Grund liegt in den zwiespältigen Beziehungen, die sich zumindest indirekt zwischen Benedikt XVI. und US-Präsident George W. Bush entsponnen haben.

Erinnert sei an das Bündnis zwischen Johannes Paul II. und Ronald Reagan zu Zeiten des Kalten Krieges und des Kampfes gegen den Kommunismus. Es beruhte auf einer "Absprache", die vorsah, daß der Heilige Stuhl die "Befreiungstheologen" in Lateinamerika im Zaum hielt und die Amerikaner im Gegenzug der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc Unterstützung leisteten.

Heute könnte ein ähnliches Bündnis zustande kommen - diesmal nicht gegen den Kommunismus, sondern gegen den Islam, der in Schwarzafrika den Hauptkonkurrenten des Christentums darstellt. Freilich liegen in mancher Hinsicht Welten zwischen dem neuen Papst und dem amerikanischen Präsidenten. Bush ist kein Katholik, sondern ein "wiedergeborener" Methodist, der den größten Teil seiner politischen Laufbahn im protestantisch-fundamentalistischen Süden der USA verbracht hat. Die vom Puritanismus beseelte religiöse Rechte, die ihn zu ihrer Galionsfigur erhoben hat, ist so sehr von der Überlegenheit ihres Gesellschaftsmodells und ihrer "Mission" überzeugt, daß sie sie der ganzen Welt aufzwingen will.

Weiterhin sollte man nicht vergessen, daß der Vatikan den amerikanischen Angriff auf den Irak in deutlichen Worten verurteilte. Kardinal Ratzinger bezeichnete im September 2004 die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union als "Fehler", während die USA sie entschlossen unterstützen.

Was die beiden Männer dagegen verbindet, ist eine pessimistische Diagnose bezüglich des "Verfalls der moralischen Werte" und der Entgleisungen der Moderne, die zu einem allgemeinen Relativismus und Materialismus und einer "geistigen Wüste" geführt hat. "Die äußeren Wüsten wachsen in der Welt", sagte der neue Papst am 24. April auf dem Petersplatz in seiner Predigt zur Amtseinführung, "weil die inneren Wüsten so groß geworden sind." Beide teilen anscheinend die Vorstellung, daß ein "Zusammenprall der Zivilisationen" zwischen dem Westen und dem islamischen Fundamentalismus, wenn nicht gar dem Islam insgesamt, unausweichlich geworden ist.

Bei den Präsidentschaftswahlen im November vergangenen Jahr stimmte die Mehrheit der amerikanischen Katholiken lieber für den Protestanten Bush als für seinen katholischen Widersacher John Kerry. Die Katholische Kirche der USA war ihrerseits an Bushs deutlichem Wahlsieg beteiligt, indem sie immer wieder Attacken gegen Kerry fuhr. Erzbischof Levada bezeichnete es sogar als "Sünde", Kerry die Stimme zu geben. Das Bündnis zwischen konservativen Katholiken und protestantischen Fundamentalisten auf der Basis gemeinsamer moralischer Werte zählte zu den Schlüsselfaktoren für Bushs Wiederwahl.

Das Pontifikat Benedikt XVI. könnte also einige Überraschungen bereithalten - für diejenigen, die seine Wahl begrüßen, ebenso wie für diejenigen, die sie bedauern. Fest steht, daß der neue Papst die große Mehrheit der Kardinäle hinter sich weiß, wie allein die Geschwindigkeit zeigte, mit der sie sich nach dem Tod Johannes Pauls II. für ihn entschieden. Das verschafft ihm viel Handlungsfreiheit. Und was seinen Ruf als "Konservativen" angeht, so ist dies zweifellos sein größter Trumpf, um die Reformen durchzusetzen, die er vielleicht durchsetzen will.

Alain de Benoist, 61, französischer Philosoph, ist Herausgeber der in Paris erscheinenden Kulturzeitschrift "Nouvelle Ecole" und Chefredakteur der Zeitschrift "Eléments"

Foto: Papst Benedikt XVI. am 29. Juni bei einer Messe im Petersdom: "Die Wüsten wachsen in der Welt"


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