© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/05 29. Juli / 05. August 2005

Die ganze Wahrheit muß ans Licht
Südosteuropa II: Zehn Jahre nach dem Massaker von Srebrenica sind viele Fragen offen / Serbien trifft keine Alleinschuld / Manipulation der Anzahl der Toten
Nikola Zivkovic

Am 1. Juni 2005 wurde im Rahmen des Prozesses gegen den ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic am UN-Tribunal in Den Haag ein Video vorgeführt. Noch am gleichen Tag strahlten es viele europäische, aber auch serbische Fernsehstationen aus. Damit waren Bosnien und der Balkan wieder ein Thema geworden.

Zu sehen ist ein grausames Massaker, das im Sommer 1995 von Angehörigen der serbischen Sondereinheit "Skorpione" begangen wurde. Sechs muslimische Soldaten, welche vermutlich bei der Einnahme von Srebrenica am 11. Juli 1995 in Gefangenschaft geraten waren, liegen gefesselt und mit dem Gesicht nach unten auf einem Lkw. Später werden sie von der Pritsche geholt und von hinten in den Kopf geschossen.

Serbiens Premier Vojislav Kostunica sprach von einem "brutalen, gnadenlosen und beschämenden Verbrechen". Auch alle serbischen Zeitungen kommentierten und verurteilen das Verbrechen. Deutsche Zeitungen schrieben hingegen: "Schweigen in Belgrad" oder "Noch immer verweigern die Serben eine offene Diskussion über ihre Verbrechen im Bosnienkrieg".

Doch das Gegenteil ist der Fall. Es wird sehr viel diskutiert, nicht nur über Srebrenica, sondern über den 1991 ausgebrochenen Jugoslawien-Krieg überhaupt. Die Diskussionen in den Medien außerhalb Serbiens waren immer einseitig. Vielleicht sind manche ausländischen Korrespondenten des Serbischen nicht mächtig oder auf Dolmetscher angewiesen. Doch allein die Bilder in den Medien hatten anderes verraten.

Serbische Medien bringen mehr über das serbische Verbrechen von Srebrenica als etwa kroatische Medien über die Vertreibung der 200.000 Serben durch Kroaten aus der Krajina im August 1995. Die bosnischen Muslime haben erst jetzt angefangen, über die Verbrechen an Serben in Srebrenica und Sarajevo zu reden. Erst in den letzten Monaten schreibt die dortige Presse über die Verbrechen, die ausländische, auf Seiten der Bosnier kämpfende Mudschaheddin an Serben und Kroaten begangen haben.

So schrecklich diese Taten auch sind, so wenig sollten sie für politische Ziele mißbraucht werden. Viele westliche Medien kommentierten den Film des Massakers in dem Ton: "Endlich haben wir den letzten unbestreitbaren Beweis für die Verwicklung der Serben in das Srebrenica-Massaker, bei welchem mehr als 7.500 bosnische Männer und Jungen ermordet wurden."

Der Film zeigt jedoch die Ermordung von sechs Menschen. Das ist schlimm genug! Dennoch sind das nicht "sieben- bis achttausend". Bei der Trauerzeremonie anläßlich des zehnten Jahrestages des Massakers, an der letzte Woche auch der serbische Präsident Boris Tadic teilgenommen hat, waren die Särge der identifizierten 610 Opfer aufgebart, die aus diesem Anlaß feierlich beigesetzt wurden (JF 29/05).

Von westlichem Militär überwacht

Das Gebiet um Srebrenica wurde im Juli 1995 Tag und Nacht von zahlreichen westlichen militärischen Beobachtern und von US-Satelliten überwacht. Es gibt bislang keine Zeugen, Beweise oder Fotos von Massenerschießungen solcher Dimension. Hätten sie stattgefunden, müßten sie stundenlang gedauert haben. Solch ein Ereignis geheimzuhalten und nicht zu fotografieren, wäre bei der Präsenz der vielen westlichen Militärs unmöglich gewesen.

Als Reaktion auf den Film hat man in Belgrad Filme vorgestellt, die kroatische und bosnisch-muslimische Greueltaten an Serben dokumentieren. Sie waren nicht weniger grausam als der gezeigte Film über den Mord an sechs bosnischen Muslimen. Daher stellt man sich in Belgrad die Frage: Wieso zeigen die westlichen Medien keine Filme, in denen die Serben Opfer grausamer Verbrechen sind? Im jugoslawischen Bürgerkrieg (1991-1995) wurden von allen Seiten schreckliche Verbrechen begangen.

Zehn Jahre nach dem Ende dieses bitteren Krieges werden auch die Verlustzahlen von allen Seiten relativiert. Die Gesamtzahl von 250.000 Toten, die man 1996, kurz nach der Dayton-Friedensvereinbarung im Westen publizierte, ist inzwischen nach unten korrigiert worden. Die bosnischen Muslime hatten demnach die meisten Toten zu beklagen (etwa 50.000). Serbische Opfer werden auf 42.000 (31.000 in Bosnien und 11.000 in Kroatien) geschätzt. Die Kroaten hatten etwa 22.000 Opfer zu beklagen (12.000 in Kroatien und 10.000 in Bosnien). Analysiert man verschiedene muslimische, serbische und kroatische Quellen, so ergibt sich eine Gesamtzahl von schätzungsweise 114.000 Toten, die auf dem Boden Ex-Jugoslawiens umgekommen sind. Das ist traurig genug. Warum wird in westlichen Medien die Anzahl der bosnisch-muslimischen Toten erhöht und die der Serben verringert?

Naser Oric, der Kommandeur der muslimischen Streitkräfte in Srebrenica, muß sich seit 2004 vor dem Haager Tribunal verantworten. Seine Verbrechen werden von holländischen Uno-Blauhelmenbezeugt, die damals dort stationiert waren. "Die Überlebenden haben Zeugnis abgelegt über das, was sich im Lager der Mudschaheddin abgespielt hat. Ihre Zeugnisse werden durch Fotografien bestätigt, die die Männer aus dem Hinrichtungskommando aufgenommen haben, als sie neben ihren serbischen Opfern posierten. Auf den Fotos (alle mit Datum versehen) kann man gefangene Serben sehen, die gefesselt am Boden liegen und noch leben. Die Männer aus dem Hinrichtungskommando fotografierten die Hinrichtungen nicht nur, sondern filmten sie auch und stellten damit Propagandamaterial für ausländische Geldgeber her. Eine Kopie des Bandes mit der rituellen Schlächterei wurde später als Geschenk an Präsident Alija Izetbegovic geschickt.", berichtete im September 2001 das Magazin Slobodna Bosna aus Sarajevo. Die deutsche Frau eines Mudschahed war Augenzeugin mehrerer Exekutionen 1995 im Dorf Guca Gora bei Tuzla. Darüber berichtet sie in ihrem Buch (Doris Glück, Mundtot, 2004).

Film vom Massaker hat in Serbien Diskussion ausgelöst

Ein Grund für die Manipulation der Zahlen der im jugoslawischen Bürgerkrieg Ermordeten ist der Prozeß gegen Slobodan Milosevic in Den Haag. Der serbische Ex-Präsident wird wegen der Ereignisse nach der Einnahme von Srebrenica im Juli 1995 des Völkermordes beschuldigt. Milosevic glaubt nicht, daß die offizielle Zahl der Toten haltbar ist.

Die in dem Video dokumentierte Erschießung der sechs Muslime fand im Ort Trnovo statt, der etwa 160 Kilometer von Srebrenica entfernt ist. Die Segnung durch den orthodoxen Abt eines Klosters der Soldaten der "Skorpione", welche später mordeten, fand am 22. Juni 1995 statt. Die Massakerszenen selbst haben keine Datumszeile. In allen vorhergehenden Sequenzen sind die Stationen der "Skorpione" mit einem Datum versehen worden. Die letzte so ausgewiesene Sequenz wurde demnach am 25. Juni 1995 gedreht. Doch die Einnahme von Srebrenica durch serbische Truppen fand erst am 10. Juli 1995 statt. Dieses Video beweist zumindest nicht, daß die Erschießungen in den 15 Tagen zuvor oder später stattfanden.

Trotzdem hat der Film viel in Serbien in Bewegung gesetzt - beispielsweise die Diskussion um die eigene Schuld. Und Mitte Juli hat der serbische Präsident Boris Tadic den vom Haager Tribunal angeklagten bosnisch-serbischen General Ratko Mladic aufgerufen, sich zu stellen. Andernfalls müsse der serbische Staat "diese Aufgabe beenden".

Eine weitere Frage bleibt: Warum wurden die Serben aus der Gegend um Srebrenica kaum erwähnt, die bis 1994 von Muslimen ermordet wurden? Sie sind alle identifiziert. Bei der serbischen Eroberung von Srebrenica sind viele Muslime von den Serben ermordet worden, die zuvor ihre Angehörigen massakriert aufgefunden hatten. Das ist natürlich keine Entschuldigung. Es gehört aber zur ganzen Wahrheit dazu.

Am 2. August 2005 ist der zehnte Jahrestag der Vertreibung von etwa 200.000 Serben aus ihren Häusern und Dörfern in der Krajina. Wie werden die westlichen Medien darüber berichten?

 

Nikola Zivkovic ist serbischer Journalist und Schriftsteller. Er arbeitet in Belgrad und Berlin.


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