© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/05 12. August 2005

Das Zischen der schwarzen Schwäne
Ein überzeugter Herzensdemokrat war er nie: Thomas Manns schwieriges Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen
Thorsten Hinz

Ein Tod am Lido von Venedig war ihm zwar nicht vergönnt, aber weit entfernt davon war er nicht. Thomas Manns Lebensende kündigte sich, kaum weniger stilvoll, Ende Juli 1955 während des Urlaubs im holländischen Seebad Noordwijk aan Zee an. Ein schmerzhaftes Ziehen im Bein hatte den Gang über die Dünen unmöglich gemacht. Der Arzt diagnostizierte eine Thrombose. Mann wurde in die Schweiz, seine letzte Wahlheimat, ausgeflogen, wo er am 12. August im Zürcher Kantonsspital starb.

Als tiefere Ursache der Erkrankung stellte sich eine ausgedehnte Arteriosklerose heraus. Man staunte, daß der Körper überhaupt so lange standgehalten hatte. Jetzt war der Lebenswille des Achtzigjährigen erschlafft. Der Umzug aus dem kalifornischen Exil in eine Villa in Kilchberg hoch überm Zürichsee war vollzogen, der 80. Geburtstag (am 6. Juni) gefeiert, der "Felix Krull" beendet und mit ihm der heitere Schlußstein eines grandiosen Gesamtkunstwerks gesetzt. Weitere innere Notwendigkeiten gab es nicht mehr. Was blieb, waren Reisen, Reden, Vorträge, Ehrungen - Äußerlichkeiten halt.

Als die Heimatstadt Lübeck, der er in Haßliebe verbunden war, ihm im Sommer 1955 die Ehrenbürgerschaft verlieh, schloß sich sein Lebenskreis endgültig. Das Lebensprinzip des Gustav von Aschenbach galt auch für seinen Erfinder: "'Sehen Sie, Aschenbach hat von jeher nur so gelebt' - und der Sprecher schloß die Finger seiner Linken fest zur Faust -; 'niemals so' - und er ließ die geöffnete Hand bequem von der Lehne des Sessels hängen."

Das Leben Thomas Manns verwirklichte sich vor allem im Willen zur Kunst. Noch einmal die Venedig-Novelle: "Auch persönlich genommen ist die Kunst ja erhöhtes Leben. Sie gräbt in das Antlitz ihres Dieners die Spuren imaginärer und geistiger Abenteuer, und sie erzeugt, selbst bei klösterlicher Stille des äußeres Daseins, auf die Dauer eine Verwöhntheit, Überfeinerung, Müdigkeit und Neugier der Nerven, wie ein Leben voll ausschweifender Leidenschaften und Genüsse sie kaum hervorzubringen vermag."

Hitler und Mussolini sah er als Speerspitzen des Pöbels

In Sätzen wie diesen stecken Selbstrechtfertigung und Selbstüberredung, Trauer über Versäumtes und unerfüllt Gebliebenes, vor allem aber ein ungeheueres Pflichtethos, mit dem er die Welt in Erstaunen versetzte. "Wo ich bin, ist die deutsche Kultur", meinte er schließlich mit gutem Recht und starb doch als amerikanischer Staatsbürger, wobei er Wert darauf legte, seine Einbürgerung unter Präsident Franklin D. Roosevelt empfangen zu haben, den als einen zukunftsweisenden Musterdemokraten er zu feiern nie müde wurde. Sogar in der voluminösen Josephs-Tetralogie finden sich versteckte Huldigungen an ihn. Mann bewunderte ihn als den stärksten Antipoden Hitlers. Aber störte es ihn nicht, daß dieser US-Präsident planvoll politischen Strömungen Tür und Tor öffnete, die nicht nur den "Führer", sondern ganz Deutschland und seinen Kulturbegriff als feindlich definierten?

In den "Bekenntnissen eines Unpolitischen" (1918), der Streitschrift wider die Demokratie, Massengesellschaft und Zivilisationsliteratur, hatte Thomas Mann die Niederlage des deutschen Kaiserreichs mit wütendem Hohn kommentiert: "Man muß sich kontemplativ stimmen, auch fatalistisch-heiter, Spengler lesen und verstehen, daß der Sieg England-Amerikas die Zivilisierung, Rationalisierung, Utilarisierung des Abendlandes, die das Schicksal jeder alternden Kultur ist, besiegelt und beendigt." Vieles davon, aber längst nicht alles, hatte er mit den Jahren hinter sich gelassen, an anderem hielt er in veränderter Weise fest.

Es bedeutet auch keine Herabsetzung dieses Ausnahmeschriftstellers, wenn man seine lebenslange Abneigung gegen einen Intellektuellentypus feststellt, den er in Figuren wie Naphta ("Der Zauberberg") oder Chaim Breisacher ("Doktor Faustus") karikaturistisch gestaltet und ausdrücklich als jüdisch gekennzeichnet hat. Schon in seiner frühen Polemik gegen Theodor Lessing hatten sich entsprechende Aversionen niedergeschlagen, und noch Hans Mayer spürte, als er ihm zum 80. Geburtstag gratulierte, Manns Reserve und führte sie auf ähnliche Affekte zurück. Sogar der nationalsozialistischen Rassenpolitik wollte Thomas Mann in den Anfangsjahren des Exils - Auschwitz hielt zu dem Zeitpunkt noch kein Mensch für möglich - eine "erhabene Härte" zuerkennen. Nein, zum überzeugten Demokraten ist Thomas Mann nie geworden. Wie also löst sich der Widerspruch zwischen Roosevelt-Bewunderung und Verwurzelung in der deutschen Kultur auf?

Seine Erfahrungen mit den ideologischen Bewegungen der 1920er Jahre und dann mit der Diktatur hatten ihn gelehrt, daß die Massengesellschaft eine unaufhebbare Tatsache und die Demokratie unter diesen Umständen die einzig mögliche Form aristokratischer Herrschaftsausübung war. Politiker wie Roosevelt, in denen er eine "aristokratische Menschlichkeit" und geistige "Verfeinerung und höhere Artung" verkörpert sah, seien "als politisch-menschliche wie als staatsmännische Typen bestimmt aristokratischer als der Typus Hitler und Mussolini". Diese waren Speerspitzen des Pöbels, mit dem die Barbarei und die Nivellierung der Kultur drohten, als deren herausragender Repräsentant er sich schließlich fühlte.

Eine Revolution zur Behauptung deutscher Kultur und Sitte, die ohne ihn stattfand und sich gegen ihn richtete, widerlegte nicht nur sich selbst, sie zielte auf die Zerstörung dessen, was ihm geistige Heimat war. Dann doch lieber Roosevelt und Amerika. Thomas Mann war ein Vernunfts-, kein Herzensdemokrat.

An den Gang ins Exil hatte er 1933 zunächst keineswegs gedacht. Wenigstens im konservativ-katholischen Bayern, hoffte er, seit der Jahrhundertwende in München wohnend, würde alles in halbwegs ruhigen Bahnen bleiben. Im Februar begab er sich mit kleinem Gepäck auf eine internationale Vortragstournee, die dem 50. Todestag von Richard Wagner gewidmet war. Im März wollte er zurückkehren, erst dringende Warnungen seiner Kinder veranlaßten ihn, in der Schweiz zu bleiben. Auch Bayern war inzwischen gleichgeschaltet worden. Sein Haus, seine Autos, ein Großteil seines Vermögens wurde beschlagnahmt oder gestohlen, eine Pressekampagne setzte ein.

Manns Begeisterung ließ Brecht vor Abscheu erstarren

Man weiß heute, daß Thomas Mann in dieser Zeit Höllenängste ausstand. Er fürchtete, die Nationalsozialisten würden seine Tagebücher finden, veröffentlichen und ihn damit gesellschaftlich vernichten. Sohn Golo befreite ihn von diesem Alptraum, indem er sich heimlich in die elterliche Villa begab, die Hefte an sich nahm und in die Schweiz schickte, wo sie nach längerer Zeit tatsächlich eintrafen. Hätte ihn die Notizen, wie eine neuere Studie insinuiert, als einen Blaubart entlarvt? Mit letzter Sicherheit ist die Frage nicht zu beantworten, denn die meisten dieser Tagebücher wurden später in Kalifornien von ihm verbrannt. Ganz sicher hätten sie die heimliche Leidenschaft des sechsfachen Vaters für sportliche Knabenkörper enthüllt. Auf Thomas Mann, der von der Majestät der eigenen Person zutiefst überzeugt war - noch auf dem Sterbebett wies er seine Lieblingstochter Erika zurück mit einem wahrhaft königlichen: "Ich kann mich jetzt auf ein Gespräch nicht einlassen. Ich bin zu schwach" -, dürfte die Kränkung, die dieser wenn auch unvollendet gebliebene Angriff auf seine Intimsphäre bedeutete, stärker gewirkt haben als alles andere. Sie erst erklärt die Schärfe seiner Polemik, die Beinahe-Identifikation mit einem deutschfeindlichen US-Präsidenten und seine Begeisterung für den Bombenkrieg gegen Deutschland, die Bertolt Brecht, der sie miterlebte, vor Abscheu erstarren ließ.

In den USA hielt Thomas Mann sich seit 1938 auf. Er war das unumstrittene Oberhaupt der literarischen Emigration und wurde von der US-Administration hofiert. 1945 hielt er in Washington den Vortrag "Deutschland und die Deutschen", in dem er die Herrschaft Hitlers mit dem Aufstand Luthers gegen Rom und die lateinische Welt kurzschloß, andererseits aber auch die singulären Hervorbringungen der deutschen Kultur und Geistigkeit entschieden verteidigte. Er schloß mit dem Satz: "Der Gnade, deren Deutschland so dringend bedarf, bedürfen wir alle."

Der zwei Jahre später erschienene Roman "Doktor Faustus" variiert die im Vortrag angeschlagenen Motive in aller Gründlichkeit. Genau genommen handelt es sich bei diesem vielleicht am meisten überschätzten deutschen Roman des 20. Jahrhunderts um einen scharfsinnigen, kulturkritischen Essay über das "deutsche Verhängnis", der mit höchster Virtuosität und Raffinesse zu einem Riesenroman aufgeblasen wurde. Auf nahezu jeder Seite rasseln die Kausalketten und klirren die Schlüssel. Viele Regalmeter an Sekundärliteratur sind verfaßt worden, um den Nachweis zu führen, wieviel Nietzsche, Adorno, Wagner, Dostojewski usw. usf. in ihm stecken. Die künstlerische Schwäche des Buches liegt auf der Hand: Der Autor präsentiert zu jeder Szene, Figur und Konstellation, zu jedem Handlungsstrang und Topos eine direkte oder indirekte Erklärung, so daß der Text am Ende geheimnislos wirkt. Hans-Egon Holthusen sprach daher von einer "Welt ohne Transzendenz". In sachlicher Hinsicht ist man mit einem Taschenbuch zum Beispiel von Helmut Plessner (Autor der "Verspäteten Nation") nicht schlechter bedient.

Der "Doktor Faustus" war nicht sein letztes literarisches Wort zu deutschen Frage. Das sprach er erst in der Erzählung "Die Betrogene" (1953), die in der Literaturwissenschaft gar nicht oder nur als bizarr-pathologisches Greisenwerk abgehandelt wird. Sie spielt in Düsseldorf in den frühen zwanziger Jahren. Zwar kannte Thomas Mann sich in Düsseldorf kaum aus und mußte deshalb erst Erkundigungen über die Örtlichkeiten einziehen, aber mit dieser Ortswahl war der Rhein - mythenträchtiger Fluß und Anspielung auf das Bonner Treibhaus - präsent. Er überließ eben nichts dem Zufall.

Im "Doktor Faustus" rasseln überall die Kausalketten

Abstrahiert man von dem behaupteten Zeitrahmen der Erzählung, dann ergibt sich aus der Erzählung eine Parabel auf die Bundesrepublik, die sich heute realiter zu erfüllen scheint: Die 50jährige Offizierswitwe Rosalie von Tümmler hat sich in den kaum halb so alten amerikanischen Sprachlehrer ihres Sohnes verliebt. Ken Keaton hat als Soldat gegen Deutschland gekämpft, ist verwundet worden und Träger einer Tapferkeitsmedaille. "Obgleich der junge Mann außer seinem guten Körperbau, seiner vollkommenen Unbefangenheit und freundlichen Schlichtheit des Geistes nichts sonderliches zu bieten hatte, war er beliebt und gesucht (...), profitierte vergnüglich von der deutschen Schwäche für alles Ausländische ..." Auch Rosalie schwärmt: "Ken ist das Herrlichste an junger Männlichkeit, was meinen Augen je vorgekommen." Ihre Tochter warnt vor seiner Einfalt, der nicht zu trauen sei, und mahnt die Mutter, "die Harmonie zwischen Leben und angeborener sittlicher Überzeugung, die ist am Ende noch unentbehrlicher, und wo sie zerrissen ist, da kann am Ende nur Zerrissenheit des Gemüts und das heißt: Unglück herauskommen." Die vor Leidenschaft blinde Rosalie ist jedoch überzeugt, "daß Einfalt etwas Erhabenes und Siegreiches sein kann, und daß seine Einfalt den großen demokratischen Geist seines weiten Heimatlandes zum Hintergrund hat". Ken sei "Mittel der Natur, an meiner Seele ihr Wunder zu tun". Das Wunder, von dem sie spricht, ist die scheinbare Rückkehr der Menstruation.

Doch gerade als sie sich dem jungen Amerikaner völlig hingeben will, wiederholen sich die Blutungen in gräßlichster Weise. Was sie sich als Beweis ihres zweiten Frühlings gedacht hatte, erweist sich als die Rache der Natur, als biologischer Reflex auf eine verwirrte Seele: Rosalie leidet an Unterleibskrebs im letzten Stadium. Kurz vor ihrem Tod wird sie zornig angezischt von einem schwarzen Schwan. Zwei schwarze Schwäne hatte einst Bayernkönig Ludwig II. seinem verehrten Richard Wagner geschenkt ...

Wer will da noch behaupten, daß Thomas Mann im Jahr seines 50. Todestages bereits historisch geworden ist?

Thomas Mann: Eine Revolution zur Behauptung deutscher Kultur und Sitte, die ohne ihn stattfand, widerlegte sich selbst - dann doch lieber Amerika

 

Literatur

Aus Anlaß des 50. Todestages von Thomas Mann sind einige neue Bücher über ihn erschienen:

- Manfred Görtemaker: Thomas Mann und die Politik. S. Fischer, Frankfurt/Main, 284 Seiten, 19,90 Euro

- Rüdiger Görner: Thomas Mann. Der Zauber des letzten. Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich, 340 Seiten, 22,90 Euro

- Dirk Heißerer: Im Zaubergarten. Thomas Mann in Bayern. C.H. Beck, München, 303 Seiten, 17,90 Euro

- Renate Hoffmann (Hrsg.): Er konnte ja sehr drollig sein. Anekdoten über Thomas Mann. Eulenspiegel, Berlin, 142 Seiten, 12,80 Euro


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