© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/05 26. August 2005

"Zuwanderung als Verlustgeschäft"
Der ehemalige SPD-Oberbürgermeister Klaus Zeitler über das verschwiegene Wahlkampfthema Einwanderung
Moritz Schwarz

Herr Dr. Zeitler, Sie haben als SPD-Oberbürgermeister schon vor 15 Jahren versucht, bei Parteien und Öffentlichkeit mehr Bewußtsein für die Probleme, die aus Zuwanderung und Integration resultieren, zu entwickeln. Im aktuellen Wahlkampf der Etablierten spielt das Thema allerdings praktisch keine Rolle mehr.

Zeitler: Man könnte dies angesichts der hitzigen Diskussion noch vor wenigen Monaten nach den Ereignissen in Holland über das Thema "multikulturelle Gesellschaft" - also eine der Folgen ungesteuerter Zuwanderung - für einen erstaunlichen Umstand halten. Aber der Publizist und ehemalige FAZ-Journalist Udo Ulfkotte hatte recht, als er im Interview mit Ihrer Zeitung damals voraussagte, die Debatte um Einwanderung und Multikulti sei auch nach dem Mord an Theo van Gogh nur ein Modethema, das bald wieder vergessen werde.

Handelt es sich im Vergleich zum Thema Arbeit oder Rente vielleicht nicht um ein "Schicksalsthema der Nation"?

Zeitler: Im Gegenteil, das Thema Zuwanderung ist nicht nur an sich von eminenter Bedeutung, sondern ist obendrein auch noch mit zahlreichen anderen wichtigen Themen eng verknüpft, wie Demographie, Arbeitsmarkt, Belastung der Sozialsysteme, Innere Sicherheit, Gesellschaftspolitik. Von Bedeutung an sich ist es, weil es mit darüber entscheidet, mit wem wir in Zukunft zusammenleben werden. So betrug zum Beispiel 1998 die Zahl der unter 20jährigen Deutschen noch 15,6 Millionen, die der unter 20jährigen Zugewanderten 2 Millionen. Doch schon im Jahr 2050 werden nur noch 6 Millionen unter 20jährige Deutsche 3,7 Millionen ausländischen Altersgenossen gegenüberstehen. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Jugendlichen dieser Altersklasse wird dann also von 11,4 auf 38,1 Prozent gestiegen sein! Derzeit spricht "dank" der Äußerungen Edmund Stoibers beziehungsweise des Aufschwungs der PDS/Linkspartei erneut alles über die Frage einer Spaltung zwischen den Deutschen in den alten und neuen Ländern. Sollten wir das Problem auch in den nächsten zwei Jahrzehnten nicht lösen, brauchen wir uns nicht mehr groß darum zu bemühen, denn es wird durch ein neues abgelöst werden: Spätestens ab 2030 wird die Zahl der Zugewanderten in Deutschland mit 15,2 Millionen die Zahl der Deutschen in den neuen Ländern mit dann nur noch 12,4 Millionen übertreffen. Das ist die Debatte der Zukunft! Wenn das kein Thema ist, über das das Volk bei einer Wahl mitentscheiden sollte!?

Woher stammen Ihre Zahlen?

Zeitler: Aus der Studie, die der Bielefelder Sozialwissenschaftler Herwig Birg, bekanntlich einer der führenden Bevölkerungswissenschaftler Deutschlands, 2001 im Auftrag der bayerischen Staatsregierung erstellt hat. Birg gehört ebenso wie Josef Schmid oder Meinhard Miegel zu denjenigen, die schon früh vor den Gefahren einer verfehlten Bevölkerungspolitik gewarnt haben, die aber von den Parteien ignoriert werden.

Warum beschweigen die Parteien das Thema?

Zeitler: Weil alle Parteien wissen, daß sie bei diesem Thema nur verlieren können. Tatsächlich nämlich sind nach einer 2004 für das ZDF erstellten Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen 52 Prozent der zu Wahlen berechtigten Bundesbürger der Meinung, daß in Deutschland ein Übermaß an Ausländern lebt. 43 Prozent der Umfrageteilnehmer glauben, daß die Ausländeranzahl in Deutschland vollkommen in Ordnung ist. Lediglich zwei Prozent der Befragten gaben an, hier lebten zu wenig Ausländer. Das heißt also, daß 95 Prozent keine oder nur eine negative Veränderung der Ausländerzahl bei uns wünscht. Diese Einstellung widerspricht jedoch einer Zuwanderung, in deren Natur es liegt, daß weitere Ausländer ins Land kommen, und vor allem widerspricht sie völlig dem, was nach den Maßstäben der Political Correctness als "weltoffen" und "tolerant" gilt. Die Politik befindet sich also bezüglich des Themas Zuwanderung und Integration in einer Zwickmühle zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung. Es scheint allerdings, sie glaubt, im Gegensatz zur veröffentlichten Meinung der Meinungsmacher die öffentliche Meinung des Volkes durch Schweigen "aussitzen" zu können.

Demnach wären die Medien verantwortlich für das Schweigen?

Zeitler: Wenn Sie so wollen. Immerhin ist es doch auffällig, daß zum Beispiel bei den Flaggschiffen der Polit-Talk-Sendungen im Deutschen Fernsehen "Sabine Christiansen" und Maybritt Illners "Berlin Mitte" das Thema Zuwanderung in den letzten zwölf Monaten nicht einmal explizit Thema war - obwohl es sogar Sendungen über den Schiri-Skandal um Herrn Hoyzer und über den Mord an Rudolf Moshammer gab. Dennoch wäre es zutreffender, wenn Sie konkret die Political Correctness statt pauschal die Medien verantwortlich machten. Denn diese wird gleichermaßen von Vertretern in Politik und Medien eingefordert. Daß die Parteien die Presse nicht brauchen, um die Political Correcntess zu exekutieren, dürfte bekannt sein. Denken Sie zum Beispiel an Deutschlands "Zuwanderungskritiker Nummer eins" Helmut Schmidt. Doch was ist die Resonanz des großen Alten in seiner Partei? Null! Oder nehmen Sie die CDU: Wer dort heute eine klare Position in Sachen Immigration und Integration fordert, der kriegt es mit den eigenen Parteikollegen zu tun! Beispiel Friedrich Merz, der nicht einmal einen Einwanderungsstopp, sondern lediglich eine deutsche Leitkultur zur Orientierung der Zuwanderung gefordert hat und der daraufhin von eigenen Leuten befehdet wurde. Wer solche Parteifreunde hat, braucht keinen politischen Gegner mehr.

Im Bundestagswahlkampf 2002 verwahrte sich Edmund Stoiber noch gegen Forderungen der Presse und des politischen Gegners, das Thema nicht zu erwähnen.

Zeitler: Und hat es danach auch Eingang in den Wahlkampf gefunden? Vielleicht in bayerischen Bierzelten, aber nicht auf Bundesebene. Der Trick war, nach den starken Worten doch stillschweigend weitgehend auf das Thema zu verzichten, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, seine Ankündigung, sich nicht den Mund verbieten zu lassen, wahrmachen zu müssen.

Immerhin hat Roland Koch in Hessen noch 1999 mit einer Unterschriftenkampagen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft einen Wahlkampf geführt.

Zeitler: Und war damit auch sehr erfolgreich. Oder denken Sie an die "Kinder statt Inder"-Aktion Jürgen Rüttgers. Heute jedoch will Rüttgers davon am liebsten nichts mehr wissen, ebenso wie sich Merz vom Begriff "Leitkultur" distanziert hat. Und bezeichnenderweise hat Koch seine Kampagne in Hessen 2003 nicht wiederholt. Als im letzten Herbst in der Union der Vorschlag aufkam, eine Unterschriftenaktion à la Hessen gegen einen EU-Beitritt der Türkei zu initiieren, wurde das Projekt bereits parteiintern erstickt.

Woran liegt das?

Zeitler: Sicher spielt eine Rolle, daß die derzeitige Parteichefin wenig konservatives Stehvermögen hat. Außerdem sind vermeintlich "rechte" Positionen seit Beginn des "Kampf gegen Rechts" im Jahr 2000 erheblich stärker unter Druck als noch 1999. Das, was Merkel, Stoiber und Co. sich bei der großen "Kampf gegen Rechts"-Demonstration am 9. November 2000 in Berlin von Paul Spiegel zum Thema Leitkultur haben anhören müssen, möchten sie wahrscheinlich nie wieder hören. Aber die Union weiß auch, daß sie das Thema Zuwanderung höchstens noch im Wahlkampf prononciert behandeln kann. In der politischen Praxis nach der Wahl fehlt ihr die Kraft und die Idee für eine eigenständige Politik in dieser Frage. Für die Union droht also das Thema nach hinten loszugehen: Denn wer erst Versprechungen macht, die er nachher nicht hält, der erzeugt Frust, der sich später bei vermeintlichen oder echten rechtsradikalen Parteien entlädt.

Betrachten Sie allein die Union als - dem Anspruch nach - "die" zuwanderungskritische Partei unter den Etablierten?

Zeitler: Nein, die SPD, die traditionell die Interessen der kleinen Leute vertritt, müßte eigentlich ebenso beziehungsweise vielleicht sogar noch mehr für eine kritische Position in Einwanderungspolitik stehen. Es gibt auch einzelne Beispiele für eine solch verantwortungsvolle Sozialdemokratie: Ich nannte schon Helmut Schmidt. Ich nenne den ehemaligen SPD-Fraktionschef und Landesminister in NRW Friedhelm Farthmann oder den SPD-Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln Heinz Buschkowsky.

Und Sie selbst.

Zeitler: Ich war immer ein überzeugter Sozialdemokrat. Ich habe 1990 die Partei im Streit verlassen, gerade weil ich mich als Sozialdemokrat in der SPD nicht mehr zu Hause gefühlt habe.

Sie sind später den Republikanern beigetreten. Hielten Sie eine Lösung der Zuwanderungsproblematik nur noch durch eine alternative Parteiformation für möglich?

Zeitler: Die SPD habe ich nicht allein wegen der Zuwanderungsfrage verlassen - das war nur ein Punkt unter vielen. Vor allem die Position meiner Partei zur Wiedervereinigung, repräsentiert durch den damaligen Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine, war für mich der Grund für die Trennung. Zeitweilig glaubte ich später, eine seriöse und konstruktive, konservative - im Sinne von volksnah - Politik sei mit einer neuen Partei möglich. Aber ich mußte feststellen, daß sich dafür nicht das entsprechende Personal in der Partei fand. Heute ist für mich dieses Kapitel erledigt.

Aber Ihre Empfehlung für die Bundestagswahl wäre immer noch, eine alternative Partei zu wählen?

Zeitler: Ich habe mit der praktischen Politik abgeschlossen.

Welche Rolle spielt das neue Staatsangehörigkeitsrecht, das die rot-grüne Bundesregierung 2000 eingeführt hat?

Zeitler: Die Ankündigung, es würde allgemein zur Eingliederung von Ausländern beitragen, war ein absehbarer Irrtum. Der Skandal um die doppelte Staatsbürgerschaft Zigtausender Türken, die eventuell sogar das Ergebnis der Bundestagswahl 2002 verfälscht haben, ist die Bankrotterklärung dieser Politik. In der Debatte des letzten Herbst hat auch niemand mehr von gelungener Integration gesprochen, sondern vor allem das Entstehen von Parallelgesellschaften konstatiert. Das Problem ist nämlich, daß ein Ausländer nicht deshalb mit dem Herzen Deutscher wird, weil man es ihm leicht macht, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben. Das Ergebnis ist, daß wir bei derzeit 150.000 bis knapp 200.000 Einbürgerungen pro Jahr eine verdeckte Ausländerquote - Menschen, die rechtlich Deutsche sind, die sie aber selbst nicht als Deutsche betrachten - produzieren.

Immerhin betrug die Zahl der Zuwanderer 1992 noch 1,2 Millionen, inzwischen sind es laut Statistischem Bundesamt noch etwa 600.000 bis 700.000 pro Jahr.

Zeitler: Mit geht es nicht um die absoluten Zahlen, sondern darum, daß den Menschen nicht die Wahrheit gesagt wird.

Und die ist?

Zeitler: Daß Zuwanderung in Verbindung mit Bevölkerungsschwund und Geburtenrate gesehen werden muß. Daß dank des neuen Staatsbürgerschaftsrechts Kinder von Zuwanderern, obwohl sie beide Pässe haben, in der Geburtenstatistik nur als Deutsche geführt werden. Professor Birg hat für 2000 bis 2005 einen jährlichen Geburtenzuwachs durch Zuwanderer von etwa 100.000 bis 130.000 Kindern errechnet. Laut Statistischem Bundesamt sind es aber etwa für das Jahr 2003 nur 76.000. Irrt der Wissenschaftler? Es ist wohl eher die Politik, die trickst: Es ist zu vermuten, daß zumindest ein Gutteil der Differenz auf das Konto des neuen, die kulturellen Tatsachen verschleiernden Staatsbürgerschaftsrechts geht. Überhaupt haben wir es mit einer "heimlichen" Zuwanderung über die Kreißsäle zu tun: Mittlerweile übertrifft sie in manchen Jahren bereits die herkömmliche Netto-Zuwanderung! Hier drohen dramatische Konsequenzen: 1998 standen 685.000 deutschen Lebendgeburten noch 100.000 von Zuwanderern gegenüber. Für 2050 berechnet die Studie nur noch 260.000 deutsche gegenüber 178.000 ausländischen Lebendgeburten. Eine Steigerung von 12,7 auf 40,6 Prozent! Und es gibt Experten, die Birgs Berechnungen noch für zu optimistisch halten.

Vor allem kritisieren Sie aber die verborgenen Kosten der Zuwanderung.

Zeitler: "Kosten" in mehrfacher Hinsicht: Eine nicht streng begrenzte Zuwanderung kostet unser Gesellschaft Stabilität, weil Einwanderung immer eine grundlegende Veränderung der Sozial- und Gesellschaftsstruktur bedeutet. Sie kostet uns Sicherheit, weil Ausländerkriminalität, Ausländerextremismus und ausländische Konflikte - wie etwa der zwischen Kurden und Türken - importiert werden. Sie kostet uns kulturelle Identität, weil die Einwanderung fremder Kulturen dazu führt, daß diese langfristig die gleiche gesellschaftliche Gültigkeit beanspruchen werden wie unsere einheimische Kultur. Und nicht zuletzt bürdet sie uns erhebliche finanzielle Kosten auf, weil sie Umverteilung von den Einheimischen zu den Migranten bedeutet: Birg hat die Einnahmeseite - also die von den Zuwanderern geleisteten Steuern und Sozialabgaben - und die Ausgabeseite - also die an die Zuwanderer gezahlten Sozialleistungen, steuerfinanzierten Transfers sowie die steuerfinanzierten Leistungen des staatlichen Infrastrukturangebots - verrechnet. Ergebnis: Bei einer Aufenthaltsdauer von null bis zehn Jahren pro Zuwanderer beträgt der Überschuß der empfangenen über die geleisteten Zahlungen pro Jahr rund 2.300 Euro, bei einer Aufenthaltsdauer von 10 bis 25 Jahren immerhin noch etwa 1.300 Euro. Erst ab 25 Jahren beginnt sich ein Überschuß der geleisteten über die empfangenen Zahlungen einzustellen. Jedoch genügt dann in aller Regel die restliche Lebensarbeitszeit nicht mehr, um die insgesamt negative Bilanz noch auszugleichen. Einwanderung ist also ein Verlustgeschäft für uns. Darüber sollten die Menschen offen informiert werden, und sie sollten durch ein entsprechendes Politikangebot auch die Möglichkeit haben, daraus eine demokratische politische Konsequenz ziehen zu können. Wir sollten nicht vergessen, daß es gerade die Frage der Mitbestimmung über das Budget war - Stichwort: no taxation without representation, also keine Besteuerung ohne ein parlamentarisches Mitspracherecht über Verwendung der Steuern -, die 1776 in Amerika zur Revolution und zur Begründung der modernen Demokratie geführt hat. 

 

Dr. Klaus Zeitler: Der ehemalige SPD-Politiker war von 1968 bis 1990 Oberbürgermeister von Würzburg. Nach 33 Jahren verließ er enttäuscht seine Partei und war zeitweilig Mitglied der Republikaner. Heute vertritt der 1929 in der Mainmetropole geborene Jurist als Gemeinderat eine unabhängige Wählerliste.

 

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