© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/05 26. August 2005

Eine historische Entscheidung
Grundgesetz: Ausgang des Verfahrens zur Bundestagsauflösung bis zum Schluß offen / Entscheidung fiel am Dienstag
Eike Erdel

Die Entscheidung fiel bereits am Dienstag. Doch verkündet werden sollte sie erst an diesem Donnerstag - fünf Wochen nach der Auflösung des Parlamentes. Doch bereits vor der Verkündung (das Urteil lag bei Redaktionsschluß noch nicht vor) war offensichtlich, daß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes über die Organklagen der Bundestagsabgeordneten Jelena Hoffmann (SPD) und Werner Schulz (Bündnis 90/ Die Grünen) gegen die Bundestagsauflösung das Prädikat "Historisch" verdienen würde.

In der öffentlichen Verhandlung am 9. August war zudem deutlich geworden, daß es kein einstimmiges Urteil geben wird. Ein Nachteil für die Kläger war, daß mindestens fünf der acht Richter von der Verfassungswidrigkeit der Neuwahlen überzeugt sein mußten. Bei Stimmengleichheit mußte es bei Bundestagswahlen am 18. September bleiben - ein klarer Vorteil für Bundeskanzler Schröder. Der Ausgang des Verfahrens in Karlsruhe war dennoch bis zuletzt offen. Immerhin hatten die Richter schon häufiger unangenehme Entscheidungen für die Berliner Politiker geurteilt. Zuletzt wurde der Europäische Haftbefehl vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben.

Ein klarer Vorteil für den Bundeskanzler

Diskutiert wurde vor allem die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht auf eine bloße "Mißbrauchskontrolle" beschränkt sei oder auch die "Plausibilität" der Entscheidung des Bundespräsidenten und der vorausgegangenen Entscheidung des Bundeskanzlers prüfen dürfe. Die Behauptung des Bundeskanzlers, er habe keine "stetige und verläßliche Basis für seine Politik", wurde von diesem damit begründet, daß ihm mit Austritten und abweichendem Stimmverhalten gedroht worden sei. Der Richter Udo di Fabio sah das Problem, die Richtigkeit dieser Behauptung zu überprüfen. Auch der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, warf bei der Verhandlung die Frage auf, inwieweit das Gericht in fremde Einschätzungsspielräume eindringen darf.

Schon in seinem Urteil von 1983 hat das Bundesverfassungsgericht nur eine begrenzte verfassungsgerichtliche Überprüfungsmöglichkeit gesehen. Immerhin hatten die Richter in der früheren Entscheidung klargemacht, daß einer Auflösung des Bundestages nach gescheiterter Vertrauensfrage verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt sind und daß eine auf diesem Wege vorgenommene Bundestagsauflösung durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben werden kann. Darin waren sich die Richter auch diesmal grundsätzlich einig. Uneinigkeit bestand aber in der Frage, wann dies der Fall ist. Sowohl die Rede des Kanzlers vor der Abstimmung über die Vertrauensfrage als auch die des Bundespräsidenten bei der Verkündung der Bundestagsauflösung haben sich deutlich an die Leitsätze der Bundesverfassungsgerichtsentschei-dung von 1983 gehalten. Beide Reden enthalten die notwendigen Stichworte, nur sind diese durch nichts belegt.

Der Verfassungsrichter Rudolf Melinghoff äußerte daher auch Bedenken, ob es überhaupt noch ernsthafte Grenzziehungen für vorgezogene Neuwahlen geben könne, wenn Einschätzungen des Bundeskanzlers als kaum überprüfbar angesehen würden. Auch der Richter Hans-Joachim Jentsch machte "erhebliche Bedenken" gegen die für die Bundestagsauflösung vorgebrachte Begründung geltend. Wird einem Bundeskanzler bei einer Mehrheit von nur drei Stimmen im Bundestag mit Austritten gedroht, dann ist es durchaus nachvollziehbar, daß er tatsächliche keine ausreichende Mehrheit mehr hat. Wenn aber schon die bloße Behauptung von solchen Drohungen ausreichen soll, dann kann der Kanzler tatsächlich jederzeit den Bundestag nach einer absichtlich gescheiterten Vertrauensfrage auflösen lassen, um zum geeigneten Zeitpunkt Neuwahlen zu erreichen. Eine solche Möglichkeit hatte das Verfassungsgericht in seiner früheren Entscheidung gerade verneint.

Wenn nicht diese Auflösung verfassungswidrig ist, dann wird dies keine Bundestagsauflösung mehr sein. Der Bundeskanzler bekannte sich von Anfang an klar zum Ziel der Neuwahlen. Schröder benannte weder in seiner Rede noch in seiner Stellungnahme an den Bundespräsidenten konkret Abgeordnete, die seine Bundestagsmehrheit gefährdeten sollen. Das Urteil mußte in jedem Fall eine historische Entscheidung sein: Entweder wird faktisch ein freies Bundestagsauflösungsrecht des Bundeskanzlers anerkannt, oder aber es scheitert zum ersten Mal eine Bundestagsauflösung am Bundeserfassungsgericht.

Eine andere - kaum beachtete - Frage ist, wie das Bundesverfassungsgericht mit den insgesamt 23 Verfassungsbeschwerden gegen die Bundestagsauflösung umgeht. Wenn die Organklagen abgewiesen werden, dann sind natürlich auch die Verfassungsbeschwerden unbegründet. Die gegen die Bundestagsauflösung 1983 gerichteten Verfassungsbeschwerden wurden mit der Begründung als unzulässig abgewiesen, daß Artikel 38 Grundgesetz eine allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl garantiere sowie das aktive und passive Wahlrecht gewährleiste, nicht jedoch das Recht des einzelnen Wählers darauf, daß der Bundestag nicht vorzeitig aufgelöst wird.

Das Bundesverfassungsgericht lehnt eine unzulässige Verfassungsbeschwerde stets als unzulässig und nicht als unbegründet ab, wenn eine Verletzung von Grundrechten offensichtlich nicht in Frage kommt. Insofern wird das Bundesverfassungsgericht so oder so feststellen müssen, ob denn das Wahlrecht des einzelnen Bundesbürgers durch eine Bundestagsauflösung verletzt sein kann.

Das Offenlassen der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden unter Hinweis der Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsauflösung wäre jedenfalls ungewöhnlich und schon ein Hinweis darauf, daß der einzelne Bundesbürger zukünftig mit einer Verfassungsbeschwerde gegen eine Bundestagsauflösung vorgehen kann.


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