© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/05 26. August 2005

Die erfolgreichste aller modernen Ethnien
Das Buch über "das jüdische Jahrhundert" von Yuri Slezkine verblüfft durch ein interessantes Fazit
Johannes Rogalla von Bieberstein

Der Buchtitel "Jewish Century" des in Rußland aufgewachsenen amerikanischen Historikers Yuri Slezkine verblüfft, indem er sich nämlich auf das zwanzigste Jahrhundert bezieht. Der Autor widmet seine Veröffentlichung seiner jüdischen Großmutter, die als junge Kommunistin verfolgt wurde, begeistert am Aufbau des Sozialismus mitgewirkt hat und im Alter stolz auf ihre jüdischen Vorfahren gewesen ist.

Das Buch ist somit aus einer anderen Perspektive verfaßt, als sie den Deutschen gewöhnlich begegnet. Es geht dem Verfasser, der seine Thesen an der Stanford University und dem Center for Advanced Judaic Studies zur Diskussion gestellt hat, darum, herauszufinden, warum die Juden zur erfolgreichsten aller modernen Ethnien (tribes) geworden sind. Die Kehrseite dieses spektakulären Aufstiegs sei, daß das jüdische Jahrhundert durch einen militanten, ja mörderischen nationalistischen Antisemitismus gekennzeichnet war.

Anders als für "politisch Korrekte", für die nach der Sprachregelung der DDR lediglich "Religionsjuden" Juden sind, gehören für Slezkine gemäß den üblichen Kriterien auch solche säkulare Juden dem jüdischen Volk an, die nie eine Synagoge besucht haben. Er arbeitet mit dem Paradigma der Modernisierung und vergleicht die Juden mit anderen Nomadenvölkern. Diese hätten jeweils besondere Dienste für die Mehrheitsvölker erbracht.

Solche "Dienstnomaden" bezeichnet er nach dem Gott des Handels als "Mercurians" und stellt sie idealtypisch den "Apollonians" gegenüber. Letztere seien als bodenständige Ackerbauern und Viehzüchter weniger gebildet, weniger beweglich und welterfahren als die Nomaden gewesen und hätten deswegen von diesen bei der Modernisierung ausgestochen werden können.

Diesen Sachverhalt erläutert Slezkine mit Daten, wonach eine recht kleine, rasch die soziale Leiter aufgestiegene Minderheit des jüdischen "Pariavolkes", wie Max Weber es nannte, wie in Preußen-Deutschland, Wien und Budapest einen erheblichen Anteil der Bankiers, Unternehmer, Ärzte, Rechtsanwälte und Journalisten stellte und einen Neid-Anti-semitismus hervorgerufen hat.

Als Fremde in den christlichen Nationalstaaten hätten viele intellektuelle Juden Zuflucht bei den von Söhnen des neuen jüdischen Mittelstands konzipierten Säkularreligionen des Marxismus und Freudianismus Zuflucht gesucht, welche kirchengleich ihre heiligen Texte produziert hätten. Anders als viele Volkspädagogen verschweigt Slezkine nichts, sondern spricht freimütig über jüdische Führer der durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Revolutionen wie Rosa Luxemburg, Eugen Leviné, Bela Kun und Leo Trotzki.

Über den durch Sigmund Freud aufgewiesenen Heilsweg hätte man gern mehr erfahren als einige aphoristische Aussagen. Auch die pauschalen Ausführungen zur Rolle der Juden in der amerikanischen Geschichte, welche eine Differenzierung zwischen der älteren, liberalen 1848er Emigration und der neueren, marxistisch geprägten ostjüdischen Einwanderung vermissen lassen, verweisen darauf, daß Slezkine in erster Linie Rußlandexperte ist. Daher bleiben auch seine Hinweise zu dem dritten jüdischen Heilsweg, dem Zionismus, ein wenig blaß.

In dem Kapitel "Babels erste Liebe" beleuchtet er kenntnisreich die bemerkenswerte Rolle der russischen Juden bei der Modernisierung ihres Landes vor 1914. Ihr Einfluß im Bankwesen, beim Eisenbahnbau, im Bergbau und im Ölgeschäft war enorm, ebenso wie im Musikleben, der medizinischen Versorgung sowie der liberalen und sozialistischen Bewegung. Bezeichnend ist, daß von den 29 Revolutionären, die mit Lenin in dem legendären Waggon nach Rußland zurückkehrten, mehr als die Hälfte Juden waren und daß der erste sowjetische Kommandant des Kreml ein militant-atheistisch engagierter Jude gewesen ist.

Erhellend sind die Ausführungen Slezkines, der ein Nichtverhältnis zu den von den Sowjets verfolgten frommen Juden zu haben scheint, zu den Entwicklungen im säkularen Judentum. So haben einige in Israel prominent gewordene Zionisten in Rußland eine marxistisch-internationalistische Jugendphase durchlaufen. Amerika ist für Juden attraktiv, weil es hier keinen ethnischen Nationalismus gibt und Juden gleichzeitig Amerikaner und Juden sein können. Die Hinwendung vieler Intellektueller aus den jüdischen Ghettos New Yorks zum Marxismus blieb eine durch den Hitler-Stalin-Pakt beendete Episode.

Nach der im Februar 1917 errungenen Freizügigkeit strömten die russischen Juden aus ihrem "Stetl" in die großen russischen Städte. Aufgrund ihres hohen Bildungsniveaus stellten sie einen weit überproportionalen Anteil der Studenten, so daß ihr Anteil an den akademischen, aber auch kaufmännischen Berufen hochschnellte und viele Juden zur kulturellen Elite gehörten.

Diese assimilierten Juden gaben ihre jiddische Umgangssprache auf, lösten nicht immer freiwillig ihre Bindung zum "reaktionären" Judaismus und assimilierten sich außer an den Marxismus-Lenismus an die russische Nationalkultur mit ihrem Puschkin-Kult. Obgleich sich die in der Sowjetunion als Nationalität behandelten (Ost-)Juden primär über ihre Abstammung definierten, gingen viele im Rahmen ihrer Russifizierung und Sowjetisierung Mischehen mit nichtjüdischen Partnern ein.

Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion wurde im August 1941 eine Versammlung der Repräsentanten des Jüdischen Volkes einberufen und Ende 1941 das Jüdische Antifaschistische Komitee gegründet. Daß Stalin jüdische Internationalisten mit bemerkenswerten Ausnahmen wie Kaganowitsch aus dem Partei- und Staatsapparat säuberte, bedeutet nicht, daß Juden ihren Einfluß im wissenschaftlichen und geistig-kulturellen Leben der Sowjetunion eingebüßt hätten. Aufschlußreich ist etwa die Tatsache, daß 1949 knapp zwanzig Prozent der sowjetischen Professoren für Marxismus-Lenismus jüdisch waren - bei einem jüdischen Bevölkerungsanteil von etwa zwei Prozent.

Die Verfolgungen von Juden durch den späten Stalin, die Gründung Israels und die gefühlsmäßige Parteinahme russischer Juden für den neuen "Judenstaat" setzten der "großen Allianz" zwischen revolutionären Juden und dem Kommunismus ein Ende. Der Zusammenbruch des Kommunismus beschleunigte den Exodus russischer Juden nach Israel, die USA und Westeuropa.

Mit seiner Nachzeichnung der stupenden Aufstiegsgeschichte der Juden bringt der weite Perspektiven aufzeigende Slezkine simplizistische Geschichtsbilder ins Wanken, etwa auch durch den Hinweis, daß es 1915 in Moskau einen Pogrom gab, der sich gegen die jüdische und deutsche Minderheit gleichermaßen richtete. Als Fazit resümiert Slezkine, daß der von ihm kritisch betrachtete Zionismus über den Kommunismus obsiegt hat, daß die Juden bei weitem die wohlhabendste Gruppe in den USA stellen, daß dort von vierzig Milliardären 16 jüdisch seien, weiter elf von 23 Medien-"Mogulen" sowie ein erheblicher Prozentsatz der Intellektuellen. Über diese imponierende Erfolgsbilanz hat bereits Jonathan Goldberg 1996 in "Jewish Power" berichtet.

Zum Abschluß stellt Slezkine fest, daß die NS-Verbrechen ein neues moralisches Absolutum hervorgebracht hätten. Das "auserwählte Volk" sei zu einem negativen "auserwählten Volk" der Nationalsozialisten geworden. Dies wiederum hätte die Juden zu einem auserwählten Volk der westlichen Welt gemacht, indem jetzt ihr Opferstatus ein Zeichen ihrer Tugend (virtue) sei. Dadurch daß der Holocaust zum Maßstab aller Verbrechen geworden ist, wurde jeder Antisemitismus restlos diskreditiert. Mit der Folge, daß es - so kann man jedenfalls für Deutschland schlußfolgern - riskant ist, an Juden Kritik zu üben. Wie besonders die Skandale um Philipp Jenninger und Martin Hohmann zeigen, werden auch Gutwilligen nur allzu leicht antisemitische Motive oder ein "sekundärer" Antisemitismus unterstellt. Dies wiederum begünstige nicht unbedingt judäophile Haltungen.

Foto: Jüdische Schüler feiern am 16. Mai 1948 die Gründung des Staates Israel in New Yersey: Opferstatus ein Zeichen ihrer Tugend

Yuri Slezkine: The Jewish Century. Princeton University Press, Princeton 2004, 438 Seiten, gebunden, 27,90 Dollar

 

Johannes Rogalla von Bieberstein ist Historiker. Er veröffentlichte das Buch "Jüdischer Bolschewismus - Mythos und Realität" (Edition Antaios, Dresden 2002).


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