© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/05 26. August 2005

Handlungsfreiheiten nicht genutzt
Neuer Quellenfund über den Anteil der Heeresgruppe Mitte am "Vernichtungskrieg"
Oliver Busch

Die Herausgeber der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte haben ihrem ehrwürdigen Organ nach dem 50jährigen Jubiläum (2003) eine neudeutsch so genannte "Layout"-Reform verordnet, so daß jetzt jeder Beitrag mit einem Bild eröffnet wird. Presseleute sind ja seit Urzeiten davon überzeugt, erst Bilder würden den Leser in den Text "hineinziehen".

Daher schaut denn Generalfeldmarschall Fedor von Bock, den "blauen Max" - den Pour le Mérite - keß bis auf den Mantelkragen herausgezogen, durchs Scherenfernrohr Richtung Osten, dort wo vermutlich "der Russe" sitzt, wo aber in dieser Bildanordnung der Text des Kieler Nachwuchshistorikers Felix Römer beginnt: "Das Heeresgruppenkommando Mitte und der Vernichtungskrieg im Sommer 1941" (VjZ, 3/2005).

Antijüdische Disposition im deutschen Offizierskorps

Römer setzt eine Diskussion fort, die Johannes Hürter im Juli-Heft des letzten Jahrgangs (JF 40/04) begann, als er danach fragte, was viele der späteren "Exponenten des 20. Juli", die im Sommer 1941 in der HGr Mitte unter von Bock dienten, eigentlich von den "Massakern der Einsatzgruppen" gewußt, wie sie darauf reagiert haben. Gerhard Ringshausen ist Hürters Feststellung einer weitgehenden Mitwisserschaft und ideologisch motivierten Duldung entgegengetreten (VjZ, 1/05), indem er den Aussagewert von Marginalien und Paraphen von Tresckows und von Gersdorffs anzweifelte. Wie schon Hürter, so kann nun auch Römer belegen, daß Ringshausens Anstrengungen vielfach "abwegig" sind. Und auch an Hürters Befund über die "Unzuverlässigkeit der nachträglichen Erinnerungsberichte von überlebenden Angehörigen des militärischen Widerstands", den Römer nochmals gegen Ringshausen ins Feld führt, ist nicht zu zweifeln. Schon gar nicht, so Römer zu Recht, werde Ringshausens These von der "grundsätzlichen Opposition" der Männer um Tresckow gegen das "Unternehmen Barbarossa" durch Quellen gestützt.

Gerade weil es diesen prinzipiellen Dissens über die Notwendigkeit des Rußlandfeldzuges nicht gegeben habe, erkläre sich erst, warum die Führung der Heeresgruppe Mitte auf "die frühen Nachrichten von den Massenexekutionen der Einsatzgruppe B in ihrem Befehlsbereich kaum reagierte". Vielen Offizierenerschien nämlich dieses radikale Vorgehen nur als "Erscheinungsform jener kompromißlosen 'Gegnerbekämpfung'", die Bestandteil des Blitzkriegskonzepts gewesen sei und die, wie Hürter ausführte, auch aufgrund der weltanschaulichen, antibolschewistischen wie antijüdischen Disposition im Offizierskorps keine moralischen Irritationen auslöste. Entsprechend "konform" sei auch das Verhalten der HGrFührung bei der Weitergabe und Umsetzung des "Kommissarbefehls" ausgefallen.

Mit einem neuen Quellenfund ist Römer bemüht, dieses Deutungsschema zu stützen. So zitiert er eine Anfrage vom Oberkommando der 4. Armee beim OKH über die Behandlung von gefangenen "Politruk-Anwärtern". Ob diese "Leninschüler" schon als Politruks, also "Kommissare" zu behandeln seien? Das Heeresgruppenkommando gab den OKH-Bescheid weiter, wonach es der 4. Armee freigestellt wurde, die Leninschüler wie Kommissare zu behandeln und zu liquidieren.

Kommissarbefehl sei nicht auf Ablehnung gestoßen

Daß die HGr diesen Bescheid, der doch großen Ermessensspielraum eröffnete, nicht restriktiv, also zugunsten der Gefangenen auslegte und die Armeeführung in diesem Sinn instruierte, zeige bereits, daß die HGr nicht einmal die ihr gewährte "Handlungsfreiheit" nutzte, also selbst die systemkonformen Möglichkeiten nicht ergriff, um der Vernichtungspolitik in die Speichen zu greifen. Dieser Vorgang sei mithin "der eindringlichste bisher bekannte Beleg dafür, daß die Ermordung der sowjetischen Kommissare im Heeresgruppenkommando Mitte keineswegs auf Ablehnung gestoßen war, sondern vielmehr mit dessen Zustimmung erfolgte". Auf den Weg in den Widerstand hatten Tresckow, seine Mitarbeiter und Freunde, sich im Sommer 1941 also gewiß noch nicht begeben.


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