© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/05 26. August 2005

Verrückte Widerstände
Das Zentrum gegen Vertreibungen paßt nicht zur deutschen Schuldtheologie
Thorsten Hinz

Der Berliner Kardinal Georg Sterzinsky will kein Zentrum für Vertreibungen in einer ausgemusterten katholischen Stadtkirche dulden. Verdenken kann man es ihm nicht. Die katholische Kirche stellt in Berlin nur eine kleine Diaspora-Gemeinde dar. Ihr Rücken ist zu schmal, um darauf eine scharfe geschichtspolitische Auseinandersetzung zu führen.

Es ist gut, daß Erika Steinbach, die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), ihrerseits die Reißleine gezogen hat. Sie erspart sich damit ein würdeloses Gezerre. Auch hätte die Unterbringung der Zentrums in einem Sakralbau eine unpassende Nähe zur deutschen Schuldtheologie assoziiert, die mehr als alles andere den Blick auf historische Tatsachen verfälscht und sich als Krebsschaden eines adäquaten Geschichtsbewußtseins erwiesen hat.

Doch woher kommt die rattenhafte Wut, mit der die Mehrheit der deutschen Funktionseliten sich gegen das Zentrum in Berlin stellt? Niemand kann abstreiten, daß die Vertreibung in die Lebenssubstanz des eigenen Volkes tiefer eingegriffen hat als jedes andere Ereignis und daß sie selbst bei extensivster Auslegung des Begriffs nicht als "Befreiung" postuliert werden kann. Die Antwort lautet: Gerade darum!

Das würden sie so nicht sagen, sondern sie verweisen mit staatsmännischer Geste auf das polnische und tschechische Lamento als Beweis dafür, daß ein Zentrum in Berlin die angeblich im Entstehen begriffene europäische Erinnerungskultur sabotiere. Den moralischen Kolonialismus dagegen, der Polen und Tschechien eine Oberaufsicht über die Art und Weise beanspruchen läßt, in der Deutschland um seine Verluste trauert, halten sie mit dieser Kultur für vereinbar.

Die Interessenlage in Warschau und Prag ist klar. Sie fürchten, aus den eigenen Kellern könnten Leichen hervorgeholt werden und Tatsachen zur Sprache kommen, die ihre Selbstbilder und Mythen beschädigen. Damit würde jene Geschichtsmetaphysik relativiert, wonach die Deutschen an den europäischen Übeln des frühen zwanzigsten Jahrhunderts die Alleinschuld tragen und mit der Vertreibung nur bekommen haben, was sie verdienen. Mit dieser Metaphysik lassen sich auch materielle oder politische Forderungen begründen. Das sind nachvollziehbare, rationale, nationalstaatliche Interessen dieser Staaten.

Aber es sind nicht die unsrigen in Deutschland. Man könnte ihnen mit historischen Argumenten begegnen und darauf verweisen, daß Friedrich Engels schon 1853 in einer geo- und militärpolitischen Analyse darlegte, daß die Entwicklung Rußlands auf die Errichtung eines slawischen Imperiums bis zur Linie Stettin-Triest hinauslaufe. Man könnte den Memoiren von Reichskanzler Heinrich Brüning entnehmen, daß ihm die Angst vor einer polnischen Intervention in Ostdeutschland stets im Nacken saß. Der durch den Versailler Vertrag limitierten Reichswehr wäre nur der Rückzug hinter die Oder geblieben. Diese zwei Beispiele belegen schon, daß dem Verlust der deutschen Ostgebiete eine äußerst komplexe Dynamik zugrunde lag. Von dieser Komplexität, die auch den Objekt- und Opferstatus der Deutschen einschließt, fühlen sich die Funktionseliten hierzulande überfordert.

Die Politiker und Historiker, die gegen das Zentrum in Berlin wettern, haben es noch nicht einmal fertiggebracht, ein brauchbares Buch über die deutsch-polnischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit zu erarbeiten. Die Weigerung, Flucht und Vertreibung mit einem Zentrum in Berlin zu würdigen, läßt sich längst nicht mehr mit politischen und moralischen Kategorien erfassen, dazu braucht es die Begriffe der Psychopathologie. Genau darum handelt es sich bei der erwähnten Schuldtheologie, die sich seit Beginn der sechziger Jahre unter aktiver Mitwirkung protestantischer Theologen zur Staatsreligion entwickelt hat und das politische und historische Denken kontaminiert.

Der Verlust der Ostgebiete ist demnach als Vollzug eines göttlichen Strafgerichts anzunehmen, das durch die moralische Minderwertigkeit der Deutschen ausgelöst wurde. Indem man die ebenso profane wie bittere Faktizität religiös auflud, erteilte man sich von der Wucht der Niederlage und dem Verlustschmerz einen Dispens und verschaffte sich psychologische Entlastung. Zugleich erhob man sich mit elitärem Anspruch über diejenigen, die diese Operation nicht mitvollziehen wollten. Gegen die Gefahr, als Form des Massenwahns entlarvt und historisiert zu werden, ist die Schuldtheologie durch zweierlei geschützt: Ihre Anhänger besetzen heute alle entscheidenden Stellen in Staat, Gesellschaft und Medien und können Debatten nach Belieben abwürgen.

Zweitens gibt es einen eingebauten Mechanismus: Das Strafgericht über die deutsche Schlechtigkeit ist niemals abgeschlossen - im Falle eines "Schlußstrichs" droht nämlich ihre Wiederkehr -, sondern muß täglich erneuert werden. Dieses Tribunal trägt den Namen "Vergangenheitsbewältigung". Das Patent für diesen institutionalisierten Wahnsinn liegt nicht einmal in Deutschland, sondern bei den Laboratorien für psychologische Kriegführung der ehemaligen Kriegsgegner. Gegen diese Welt von Verrückten kämpft Frau Steinbach ihren tapferen, einsamen Kampf.


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