© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/05 02. September 2005

"Die Nation vernachlässigt"
Der ehemalige Verfassungsrichter Konrad Kruis über das verschwiegene Wahlkampfthema Wertkonservatismus
Moritz Schwarz

Herr Kruis, sollte die Union die Bundestagswahl am 18. September gewinnen, kommt dann die "geistig-moralische Wende"?

Kruis: Oh, ich hoffe doch.

Sie hoffen mit frommer oder mit begründeter Zuversicht?

Kruis: Ich sehe die Berufung Paul Kirchhofs als ein ausgesprochen positives Zeichen. Ich schließe daraus auf eine gewisse Entschlossenheit, ein Grundsatzthema anzupacken, nämlich die herrschende Besteuerungswirrnis zu lichten. Denn von hier geht ein Ausfaulungsprozeß aus, der die Grundwerte in Frage stellt. Staatlicher Lenkungswahn hat die Steuergesetzgebung verfremdet. Die Steuer ist nicht mehr als Gemeinlast erkennbar. Wegen der Unklarheit und Unvollziehbarkeit vieler gesetzlicher Regelungen verlagert sich der eigentliche Regelungsgehalt in die Durchführungsverordnungen und in ministerielle Erläuterungen, die ihrerseits rechtlich fragwürdig sind. Der Bürger kann das Ausmaß seiner Verpflichtungen nicht mehr ohne fremde Hilfe hinreichend sicher erkennen; nur der Wohlberatene vermag seine Rechte noch abzuschätzen und zu nutzen.

Was hat das mit "geistig-moralischen" Werten zu tun?

Kruis: Es geht um den Wert der Solidarität. Denn all dies führt doch dazu, daß die Besteuerung ihre Akzeptanz verliert und die Solidarität der Gesellschaft im Staat und mit dem Staat aufgehoben wird. Was gefordert wird, ist die Herstellung von Belastungsgleichheit und Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung, damit der Bürger nicht an der Gerechtigkeit verzweifelt. Das bedeutet zugleich den ersten wesentlichen Schritt hin auf ein einfacheres und transparenteres Steuerrecht. Die den einzelnen dann treffende Last wird um so leichter sein, je besser es dem Gesetzgeber gelingt, alle Leistungsfähigen an der sozialstaatlichen Solidarpflicht zur Deckung des öffentlichen Finanzbedarfs zu beteiligen. Dazu bedarf es auch einer stärkeren Ausrichtung des Steuerrechts vor allem an dem von der Verfassung vorgegeben grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Rahmen.

"Alle diskutieren über Konservatismus - nicht die Union"

Angela Merkel spricht mittlerweile bevorzugt von Zusammenhalt, Geborgenheit, Gemeinsinn und Sicherheit in der Familie. Geben diese "allgemein-menschlichen" konservativen Werte aber nicht lediglich eine Orientierung für das Zusammenleben der Menschen, schaffen aber keinen politisch aktivierbaren kulturellen Resonanzboden? Beispiel: die Ruck-Rede des damaligen Bundespräsidenten Herzog, deren Adressat das deutsche Volk war - ein Volk, das nicht mehr gewöhnt ist, als Volk angesprochen zu werden. - Auch die Union spricht lieber zum Beispiel von "den Menschen".

Kruis: Ich kann nicht widersprechen, die Pflege des Wertes der Nation ist in den letzten vierzig Jahren in der Tat vernachlässigt worden. Allerdings nicht nur von der Union. Immerhin hätte man aber von ihr eine besondere Pflege dieses Wertes erwarten können. Es beeinträchtigt Deutschland durchaus erheblich in seiner Zukunftsfähigkeit, daß bei uns nationale Traditionen leider so stark abgeschliffen worden sind.

Im September 2001 schlug Roland Koch deshalb vor, das Thema "Nation" in den Bundestagswahlkampf der Union einzubringen. Offenbar wollte Edmund Stoiber davon aber 2002 nichts wissen, ebensowenig wie augenscheinlich nun Angela Merkel. Ein beharrlich verschwiegenes Wahlkampfthema?

Kruis: Die Union macht sicher den Fehler, daß sie nicht der Frage nach bestimmten Grundwerten, sondern nach dem Erfolg Vorrang gibt. Natürlich redet sie den Leuten in gewisser Weise nach dem Mund. Andererseits können Sie nicht erwarten, daß sie besser ist, als die Gesellschaft, in der sie existiert. Die Gesellschaft selbst nimmt diese Werte nicht mehr sonderlich ernst.

Dennoch scheint es Menschen zu geben, die die Substanzlosigkeit der Union stört: Wolfram Weimar, Chefredakteur des "Cicero", Jens Jessen, Feuilletonchef der "Zeit", Johann Michael Möller, stellvertretender Chefredakteur der "Welt", sie alle haben unlängst in ihren Blättern das Fehlen einer konservativen Idee bei der CDU kritisiert.

Kruis: "Alle diskutieren über Konservatismus, nur die Union nicht", wie Herr Möller treffend schreibt. Dem ist nicht zu widersprechen.

Frau Merkel hat seit der letzten Bundestagswahl dreimal angekündigt, eine Patriotismusdebatte in der CDU führen zu wollen - geführt hat Sie nicht eine!

Kruis: Ich glaube, daß Frau Merkel diese Debatte im Grunde ganz gerne anstoßen würde, daß jedoch nicht allzu viele in der Union daran Interesse haben.

Um so schlimmer. Rot-Grün führt dagegen die Debatten nicht, weil dort über die Inhalte der Gesellschaftspolitik weitgehend politische Einigkeit besteht, wie der massive gesellschaftliche Umbau der letzten sieben Regierungsjahre beweist.

Kruis: Man denke zum Beispiel an die Verschiebung im Familienverständnis durch die Einführung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft oder an die fundamentale Umorientierung beim Verständnis vom Volk und Nation durch das neue Staatsbürgerschaftsrecht.

Die Union hat jedesmal dagegen politisch opponiert, wird aber nun, sollte sie die Wahl am 18. September gewinnen, keines dieser Gesetze zurücknehmen, wie sie bereits angekündigt hat.

Kruis: Die Union erkennt nach meiner Ansicht nicht in ausreichendem Maße den ideologischen Ansatz der rot-grünen Gesellschaftspolitik. Wie wenig es da tatsächlich um die Beseitigung der Benachteiligung von Menschen geht, wird daran deutlich, daß manche nicht-homosexuellen Menschen weiterhin in nicht abgesicherten Lebensgemeinschaften leben. Deren Wohl und Wehe scheint Rot-Grün im Gegensatz zu ihrer einschlägigen homosexuellen Klientel herzlich egal zu sein. Das zeigt, es geht vor allem um einen weltanschaulich motivierten Umbau der Gesellschaft. Widerstand wäre also dringend geboten. CDU/CSU müssen erkennen, daß die Regelung, wie sie jetzt besteht, nicht hinnehmbar ist. Andererseits kann ich verstehen, daß die Union meint, sich dieser Herausforderung nicht stellen zu sollen. Denn abgesehen vom Gegenwind in den Medien, den dies provozieren würde, findet sich dafür wohl inzwischen auch in der Gesellschaft keine Mehrheit mehr - ganz abgesehen davon, daß der Streit schon innerhalb der Partei entbrennen würde.

"'Dank' der Grünen verstehen wir uns heute als Einwanderungsland"

Wie schon 2000 in der Debatte um die Leitkultur. Ergebnis des damaligen Totalausfalls: Die Union spricht heute zwar nicht offiziell von der "multikulturellen Gesellschaft", unterstützt diese Politik aber in der Praxis, wie zum Beispiel in Duisburg (siehe Interview auf Seite 7), wo Schwarz-Grün regiert und Grün in der Gesellschaftspolitik den Ton angibt.

Kruis: So wie es den Grünen auch gelungen ist - obwohl sie nur eine kleine Partei sind -, gegenüber dem ursprünglichen Konsens der übrigen Etablierten durchzusetzen, daß sich Deutschland heute mehr oder weniger als ein Einwanderungsland versteht.

Woraus resultiert diese kulturelle Dominanz der Grünen?

Kruis: Bei Union und SPD handelt es sich im Gegensatz zu den Grünen längst nicht mehr um eigentliche Weltanschauungsparteien, sondern um Volksparteien. Eigentlich ein gutes Zeichen für eine Demokratie. Allerdings treten dadurch Werte und andere weltanschauliche Aspekte zwangsläufig zugunsten von Sachthemen in den Hintergrund. Die Wahl wird, statt zum weltanschaulichen Richtungsduell, zum periodischen Legitimationsvorgang - verleiht der Politik so aber Stabilität. Dennoch ist natürlich auch bei den etablierten Parteien eine Wertekomponente vorhanden. Bei den Unionsparteien ist es das christliche Menschenbild, bei der SPD das "Herz für die Randgruppen". Ansonsten gilt aber vor allem: Auf den Kanzler kommt es an und darauf, wem es gelingt, die Mitte zu besetzen!

"Im Ringen um den Sozialstaat steckt eine verdeckte Wertedebatte"

Warum ist die SPD dennoch viel eher bereit, auf ihre Werte und Traditionen hinzuweisen - die also ein gewisses Hindernis auf dem Weg in die Mitte darstellen -, als die Union?

Kruis: Tatsächlich hat auch die SPD schon sehr viel aufgegeben - und nicht erst, seit sie seit 1998 an der Macht ist. Weil aber an der SPD die Gewerkschaften hängen, kann sie sich nicht so emanzipieren wie die Union.

Warum fällt das der Union so viel einfacher?

Kruis: Weil bestimmte Gruppen der Stammklientel der Union geschwunden sind: Es gibt kaum noch Bauern, die Vertriebenen sterben aus, und die traditionellen bürgerlich-christlichen Milieus haben sich weitgehend aufgelöst. Die Gewerkschaften sind dagegen bis heute intakte gesellschaftliche Formationen. Die Mehrheit der Wähler zieht heute personelle Alternativen, weltanschaulichen Alternativen vor. Denken Sie zum Beispiel an 1998, als es den meisten Wählern eher darum ging, das verbrauchte Regiment Kohl abzuwählen, als mit ihrem Votum den kulturellen Vorstellungen von Rot-Grün gegenüber denen der Union den Vorzug zu geben. Derzeit ist zwar laut Umfragen der amtierende Bundeskanzler beliebter als die Gegenkandidatin, doch handelt es sich diesmal um eine Richtungswahl in Sachen Arbeit und Soziales. Es geht heute darum, auf diesem Feld unser Bekenntnis zu unseren Grundwerten einzulöse - weil die Menschen älter werden und es zu wenig Arbeit gibt. Die Reformbedürftigkeit der drei materiellen Grundpfeiler unserer gesellschaftlichen Struktur, der Arbeitsmarkt, das Steuerrecht und die Renten- und Krankenversicherung, betrifft die Wahrung dieser Grundwerte.

Ihre These ist also, auch in der Debatte über Arbeit und Soziales steckt eine verdeckte Wertedebatte?

Kruis: Ganz recht, denn im Grunde stehen wir am Beginn der Ablösung eines Systems, das über hundert Jahre der Implementierung des Sozialstaats gedient hat, sich nun aber als dazu nicht mehr voll tauglich erweist. Auch wenn bei Übernahme der Regierung durch die Unionsparteien nach dem 18. September ein Rechtswandel noch nicht stattfinden sollte - früher oder später wird er kommen.

Die Linke sieht bei einem schwarz-gelben Wahlsieg diesen durchaus schon gekommen.

Kruis: Keine der etablierten Parteien vertritt heute wirklich das Ende des Sozialstaatsprinzips, wie wir es kennen. Selbst die Vorschläge der FDP gehen noch nicht weit genug, um das ernstlich behaupten zu können. Die Linke spielt natürlich gern diese Karte. Tatsache aber ist, daß der deutsche Sozialstaat nicht zwangsläufig so aussehen muß, wie sich die Linke das vorstellt. Natürlich sehen sich SPD, PDS und Grüne gerne als einzig legitime Erben des deutschen Sozialstaatsprinzips. Es handelt sich aber eben um ein "Prinzip", das heißt, es kann durchaus unterschiedliche Ausgestaltungen erleben - und hat sie auch schon erlebt. Dies beweisen die großen Veränderungen seit Einführung durch Otto von Bismarck. Die Debatte um die Ablösung des Sozialstaatsprinzips findet allerdings bereits in den Feuilletons und Wirtschaftsteilen einiger Zeitungen statt. Angesichts dieser kommenden Herausforderung - die mit zunehmender Globalisierung immer größer werden wird - ist es um so wichtiger, daß wir uns in den grundlegenden Werten unserer Gesellschaft einig sind. Der Wert der individuellen Freiheit, der Schutz des Lebens, das Eigentum als "geronnene Freiheit" sind bei uns heute glücklicherweise Werte, die unstrittig geworden sind.

Wirklich? Wie hoch steht die individuelle Freiheit bei uns tatsächlich im Kurs, angesichts des Ausbleibens einer angemessenen Entschädigung der SED-Opfer, die sich für sie in der DDR eingesetzt haben? Wie hoch steht der Schutz des Lebens im Kurs, angesichts einer Abtreibungsregelung mit Millionen Todesopfern? Wie hoch steht der Wert des Eigentums im Kurs, angesichts der rechtsstaatswidrigen Perpetuierung der kommunistischen Enteignungen 1945 bis 1949? Lauter vergessene konservative Wahlkampfthemen?

Kruis: Was die SED-Opfer-Entschädigung und Enteignungen angeht, haben Sie sicherlich recht. Was die Abtreibung angeht, so ist die Sache etwas komplizierter, denn der Kompromiß beinhaltet im Grunde durchaus einen Achtung vor dem Leben, nur läßt sich diese eben nicht in allen Phasen und unter allen Umständen mit dem Strafrecht erzwingen. Es ist das Versagen aller Parteien, wenn die Abtreibung heute als individuelles Freiheitsrecht mißverstanden wird. Die Parteien haben die Wertentscheidung, die das Bundesverfassungsgericht seinem Beschluß 1993 zugrunde gelegt hat, nicht ausreichend in die Öffentlichkeit getragen.

"Frustrierte Konservative suchen nach einer Protestpartei"

Sollen Konservative angesichts dieser Bilanz also tatsächlich am 18. September die Union wählen, oder empfehlen Sie nicht doch eine konservative Alternative?

Kruis: Welche sollte das sein? Die Stimmen der Protestwähler wird bei dieser Wahl die PDS/Linkspartei einsammeln. Auch manch frustrierter Konservativer wird sich vielleicht nach einer Protestpartei umsehen. Ich finde aber, Angela Merkel hat Unterstützung verdient. Sie bemüht sich im Gegensatz zur Linkspartei nach besten Kräften um eine konstruktive Alternative zu Gerhard Schröder und auch in gewisser Weise zu Edmund Stoiber, der nämlich selbst aus politischer Frustration heraus heute über andere räsoniert.

 

Konrad Kruis Der Jurist war von 1987 bis 1998 Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und zuvor Ministerialdirigent in der bayerischen Staatskanzlei. Von 1967 bis 2004 war er Mitglied der CSU. Geboren wurde Kruis 1930 in München.

 

weitere Interview-Partner der JF


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen