© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/05 02. September 2005

Kulturnation Deutschland
Aufgaben gibt es genug: Sind von einer bürgerlichen Regierung neue Konzepte zu erhoffen?
Andreas Strittmatter

Es gehört zum Politikbetrieb, dem Volk Mögliches bereits möglichst vor Eintreten der Möglichkeit als bare Münze zu verkaufen. Dazu muß man heute nicht einmal mehr das große Ganze bemühen, nach Visionen und Versprechen, nach Richtung, Reform und Rendite fragen. Das Gesetz der Potenz greift zwischenzeitlich sogar bei der eigenen Nabelschau und führt zu Neuwahlen, selbst wenn Parteivorsitzende ihrem Kanzler bei allem verordneten Mißtrauen das Vertrauen der Fraktion bekunden können.

Das Gesetz der Potenz erstreckt sich auch auf Parteien, die zwar längst nicht die Wahl gewonnen haben, dem Wähler aber bereits ihr "Regierungs"-Programm unter die Nase halten. In einem Punkt beschreibt das Papier von CDU und CSU jedoch unzweifelhaft die Realität: "Deutschland ist eine Kulturnation". Ein Blick in die Vergangenheit reicht.

Und die Gegenwart? Die Union packt den Nebelwerfer aus. Unbeantwortet bleibt vor allem die Frage, wie es nach einem noch zu erlangenden Machtwechsel um jene Behörde bestellt sei, der Staatsministerin Christina Weiss als Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) vorsteht. Wird die Union - im Fall einer schwarz-gelben Mehrheit - diese rot-grüne Neuerung ad acta legen?

Dagegen spricht, daß Angela Merkel mit Nobert Lammert einen Mann für Kultur ins "Kompetenzteam" berufen hat. Konkreter wird die FDP, die in ihrem Deutschlandprogramm Kultur nicht nur als Staatsziel im Grundgesetz verankert wissen möchte, sondern deren Vorsitzender dafür plädiert, daß Weiss' möglicher Nachfolger im Kabinett einen Sessel zugeschoben und dieses Land ergo einen veritablen Kulturminister bekommt. Aber bedarf eine föderal geordnete Kulturnation überhaupt eines nationalen Kulturministers oder einer staatsministerlichen Beauftragten?

Idealistisch-emphatische Bekenntnisse von Not und Zeichenhaftigkeit des Unterfangens klingen zwar immer gut, können den Steuerzahler aber viel Geld kosten, wenn Kultur auch auf Bundesebene kräftig durchbürokratisiert und trotzdem konzeptionsloser Wirtschaft unterworfen wird. Ein Vorwurf, den man Christina Weiss zumindest in Fragen der Bürokratie kaum wird unterschieben mögen - mit 190 Mitarbeitern in Berlin und Bonn ist ihre Behörde relativ schlank.

Hinter manchen Verwendungszweck der 1,041 Milliarden Euro, die der Staatsministerin in diesem Jahr zur Verfügung stehen, mag man schon eher ein Fragezeichen setzen. Was haben die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit und deren Aufarbeitung (wenngleich eine wichtige Aufgabe!) mit Kultur zu tun? Wenig genug jedenfalls, als daß man sie in einem Atemzug mit der Stiftung Weimarer Klassik nennen wollte. Ehrlicherweise führt die Ausgabenliste der BKM dieses Erbe denn auch als eigenen Posten und ordnet es nicht den Projekten zur Förderung des Geschichtsbewußtseins zu.

Die Förderpraxis der BKM ist gelegentlich undurchsichtig und doch durchschaubar: So kassieren die gewerkschaftsnahen Ruhrfestspiele verhältnismäßig kräftig. Auch die Finanzspritzen an Berlin über verschiedene Ausgabenposten (obschon die Staatsministerin unter dem Punkt "Förderung von Kunst und Kultur in der Bundeshauptstadt Berlin und in der Bundesstadt Bonn" ohnehin schon eine Menge Geld quasi vor der Haustüre verteilt) deuchen zweifelhaft.

Ein Kulturministerium auf Bundesebene kann nicht dafür zuständig sein, unter dem Mäntelchen der Hauptstadtförderung munter Gelder in den maroden Landeshaushalt von Berlin zu schieben beziehungsweise Kultur zu finanzieren, die eigentlich aus der Landeskasse bezahlt werden müßte - so sehr man sich auch den Gedeih von Theatern und Opernhäusern, Chören und Orchestern wünschen mag. Bei der kulturellen Hauptstadtförderung mahnt nicht von ungefähr etwa die FDP in ihrem Programm "ein klares Konzept" und "Transparenz und Objektivität" an.

Grundsätzlich ist die staatliche Unterfütterung des Kulturbetriebes (ob in Stadt, Land oder im Bund) ohnehin eine zweischneidige Angelegenheit. Im internationalen Vergleich kann sich die Kulturszene auch heute noch auf üppige Zuwendungen verlassen, wenngleich die ganz fetten Jahre vorüber sind. Gejammert wird oft auf hohem Niveau.

Der Segen der Subvention birgt auch Gefahr: Unabhängig von Zuschauerinteressen (und Einnahmen) wird "Kunst" immer wieder ohne Rücksicht auf Verluste und am Publikum vorbei auf die Beine gestellt: Kreationen, deren Produzenten nicht eingedenk sind, daß Kunst Kommunikation ist und daß Kommunikation einer Sprache bedarf, die das Publikum wenngleich nicht auf Anhieb verstehen, so doch zumindest erlernen kann.

Natürlich dienen Subventionen auch dazu, Experimente zu ermöglichen, die "am Markt" kaum Chancen hätten. Natürlich dienen Subventionen dazu, Kunst als Herausforderung zu ermöglichen - und Kunst muß stets Herausforderung sein. Aber Subventionen dienen auch dazu, die kulturelle Grundversorgung zu garantieren, und die läßt sich mit esoterischen Ideen aus den Elfenbeintürmen des Kunstbetriebes nicht bewerkstelligen. Warum? Weil's kaum jemanden interessiert. Frank Castorfs vor Jahresfrist gescheiterte Neukonzeption der Ruhrfestspiele drängt sich hier als Beispiel geradezu auf.

Ist das Publikum nur tumb? Manchmal - ja. Aber oftmals sitzen die Toren an anderer Stelle. Wohin der Segen der Subvention führen kann, hat beispielswegen die deutsche Theaterlandschaft vor allem in den 1970er und 1980er Jahren mit Nachdruck und vor zunehmend leeren Häusern bewiesen.

Unter diesen Umständen mag es beinahe besser scheinen, wenn nicht auch noch der Bund im großen Stil in die Gestaltung der Kulturnation Deutschland eingreift. Unzweifelhaft gibt es aber nationale Kulturaufgaben, denen man einen kompetenten Sachwalter mit entsprechendem Einfluß nur wünschen kann - und dieser Einfluß kann nur von Wert sein, wenn er mit ministerieller Macht vertreten wird. Sonst besteht die Gefahr, daß die Kulturpolitik des Bundes nach einem möglichen Machtwechsel wieder in die gleichsam postfeudale Niederung eklektizistischer Inszenierungen zurückfällt, mit denen sich die Ära Kohl zu schmücken trachtete.

Aufgaben gibt es genug: Neben dem Tagesgeschäft mit der Förderung von Literatur, Bildender Kunst und Musik, neben Stiftungen, Festspielen und dem deutschen Film ist es vor allem der Umgang mit dem nationalen Gedenken (Zentrum gegen Vertreibungen, 17. Juni-Denkmal, Mahnmal für die Opfer der deutschen Teilung), bei dem man sich neue und durchdachte Konzepte erhoffen möchte. Vielleicht greift unter einer bürgerlichen Regierung auch hier das Gesetz der Potenz.


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