© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/05 02. September 2005

Vor dem Gesetz
Harald Seuberts gründliche Studie der Rechtsphilosophie Platons
Julius Möllenbach

Was hat uns Platon heute noch zu sagen? Nimmt man das umfangreiche Werk des Hallenser Philosophen Harald Seubert über Platons Rechtsphilosophie zur Hand, wird man wohl eine Antwort auf diese Frage erwarten können. Warum überhaupt einen Denker studieren, der vor 2.400 Jahren lebte und unter vollkommen anderen geschichtlichen Bedingungen seine Gedankengänge entwickelte? Welcher denkbare Nutzen kann darin liegen, die Frage nach dem Recht am Leitfaden eines Philosophen zu erörtern, der von den rechtsphilosophischen Fragen unserer Zeit, etwa der Frage nach dem Recht und der Notwendigkeit eines Weltstaats, denkbar weit entfernt war?

Bevor sich der Leser tatsächlich in Platons eigentliche Denkgefilde hinein begeben darf, braucht es freilich zu Beginn des grundgelehrten Buches - einer Habilitationsschrift - einen handelsüblich langen Exkurs in die Begriffsgeschichte. Hat man sich aber durch diesen Teil hindurchgearbeitet, lohnt die Lektüre. Die umfassenden Register machen das Buch auch als Nachschlagewerk nutzbar. Denn Seubert überblickt in seinem Buch den ganzen Kosmos der Platonischen Dialoge. Das ist bemerkenswert und erfordert einigen Mut, gibt es doch zu Platon eine umfängliche Spezialliteratur, die der einzelne Forscher längst nicht mehr überblicken kann. In einer tiefgründigen Weise hebt Seubert thematische Verknüpfungen zwischen den Dialogen ins Tageslicht der philosophischen Reflexion, auch wenn es nicht immer leicht ist, in der Fülle des Dargebotenen den roten Faden zu verfolgen.

Für Seubert stellt sich das Gesamtgefüge der Platonischen Philosophie so dar, daß Recht und Gesetz als Grundbegriffe der Ethik Platons und Sokrates' verstanden werden müssen. Die Idee des Guten steht deshalb in engem Zusammenhang mit der Frage der Gesetzgebung. Denn der Gesetzgeber muß bei seiner Tätigkeit das für alle gemeinsame Gute im Blick haben, wenn das Gesetz nicht nur die juristische Verkleidung jeweiliger machtgestützter Sonderinteressen sein soll. Das Grundmotiv der platonisch-sokratischen Dialektik - die Frage nach dem richtigen, dem guten Leben - begründet die bleibende Aktualität Platons. Denn indem der Mensch erfährt, daß er sich über die Grundsätze seiner Lebensführung Rechenschaft ablegen muß, will er nicht das Leben eines gedankenlosen Tieres führen, kommt er erst ganz zu sich und kann in Freundschaft mit sich selbst und damit auch als rechtlicher Mensch leben. Die Weigerung eines Sophisten (wie auch Kallikles im Dialog "Gorgias"), das Gespräch mit Sokrates fortzuführen, ist identisch mit der Weigerung, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist. Und sie schließt stets die mangelnde Selbsterkenntnis dessen ein, der den Anspruch erhebt zu wissen, was Gerechtigkeit sei, ohne diesen Anspruch im prüfenden Gespräch auch ausweisen zu können. Die Einsicht des Sokrates, daß Unrecht leiden besser ist als Unrecht tun, birgt in sich das Problem der Seele, denn nur dann, wenn es dem einzelnen in Wahrheit um seine Seele und damit um das Glück zu tun ist, wird man ihn von der notwendigen Wahrheit dieses ethischen Satzes überzeugen können.

Das Recht, so zeigt das tief eindringende Philosophieren der Dialoge Platons, ist nicht als das Andere der Moral zu verstehen, sondern es erfordert geradezu die moralische Einsichtsfähigkeit als die Bedingung der Möglichkeit seiner gesellschaftlichen Anerkennung. Dieser Gedanke weist aber auch auf die Bedeutung der Erziehung oder Bildung (paideia), die rechtlich gesinnte Menschen hervorbringen muß, ohne die kein Staat gerecht sein kann. Der Staat aber hat für ebenjene Bildung Sorge zu tragen.

Die monumentale Platon-Schrift der Spätjahre, die "Gesetze" (Nomoi), die sich ebenso wie der "Staat" (Politeia) dieser Thematik widmet, stellt eben deshalb das vielleicht politischste Werk des Philosophen dar. Geht es doch Platon hier darum, "wie die ideale Polis im Kampf und im Wechsel der Geschichte erhalten werden kann". Dies ist wahrlich eine Fundamentalfrage des politischen Denkens. Platons philosophischer Impuls hat, eben weil sein Denken auf solche zeitübergreifend fundamentalen Probleme gerichtet ist, an Kraft nichts verloren. Denn auch dann, wenn man die Antworten Platons nicht mehr für sinnvoll erachtet, kann man doch von ihm lernen, die richtigen Fragen zu stellen, die im oberflächlichen politischen Alltag oft verlorengehen.

Seuberts niveauvolle Studie rekonstruiert mit Subtilität den Platonischen Denkkosmos von der Rechtsphilosophie her. Über diese Rekonstruktion hinaus bedarf es jedoch der Aktualisierung - worauf Seubert in dieser akademischen Arbeit verzichten mußte. Mit Platon philosophieren ist aber, recht verstanden, immer ein Philosophieren mit Hilfe Platons über unsere Zeit, nicht bloßer, historisch orientierter Nachvollzug des Denkens Platons über dessen eigene Zeit. Es läßt daher aufmerken, daß Seubert sich mit seiner Studie auf den legendären Streit zwischen Antike und Moderne in der frühen Neuzeit bezieht. Zwar endete dieser historisch mit dem Sieg der Moderne. Doch zeigen gerade die Schattenseiten dieser siegreichen Moderne, daß es hilfreich sein kann, trotz ihres faktischen Sieges auch das antike Denken mit seinen Fragen und Antworten im Bewußtsein zu halten.

Daß Platon als ein Denker präsent bleibt, an dem wir uns denkerisch messen lassen müssen, ist zweifellos auch das Verdienst eines so profunden wie begnadeten akademischen Lehrers wie Harald Seubert. Im Interesse einer größeren Breitenwirkung darf man hoffen, daß Seubert seine philosophischen Erkenntnisse bald in zugänglicherer, das heißt kompakterer und damit deutlich erschwinglicherer Form präsentieren wird. Dann erst könnte die aktuelle Bedeutung Platons stärker richtig ins Bewußtsein treten, die darin liegt, der stets drohenden Dekadenz durch die Frage nach dem richtigen Leben zu begegnen.

Harald Seubert: Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre. Philosophische Schriften 57, Duncker & Humblot, Berlin 2005. 733 Seiten, 112 Euro

Anselm Feuerbach: Gastmahl des Plato (II), 1873, Öl auf Leinwand, Berlin, Alte Nationalgalerie: Antikes Denken im Bewußtsein halten


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