© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/05 09. September 2005

Wahlkampf
Wenn die Dämme brechen
Dieter Stein

Sage und schreibe 21 Millionen Zuschauer sollen am vergangenen Sonntag das Fernsehduell zwischen Angela Merkel und Bundeskanzler Gerhard Schröder gesehen haben. Fast jeder dritte Wahlberechtigte hätte damit die einzige direkte Auseinandersetzung zwischen Amtsinhaber und Herausfordererin angesehen. Ungezählt jedoch sind diejenigen, die sich vor dem laufenden Fernseher nach kurzer Zeit in eine Zeitschrift vertieft haben oder sogar eingeschlafen sind. Denn das von vier Topmoderatoren gelenkte Gespräch war an Langweiligkeit kaum zu überbieten. Der Höhepunkt war offenbar erreicht, als Schröder die Liebe zu seiner Ehefrau bekräftigen durfte.

Um den Kern der Krise des Gemeinwesens wurde jedoch ein großer Bogen gemacht. Anstelle des läppischen Geplänkels über die Merkel-kritischen Äußerungen der Kanzlergattin hätte über die demographische Katastrophe des deutschen Volkes gesprochen werden müssen. Doch auch hier beschränkte man sich auf ununterscheidbare Aussagen zur "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" - als sei damit die seit den siebziger Jahren fortschreitende Implosion der Vitalität unserer Gemeinschaft auch nur angedeutet.

Alles kreist um die Bewahrung des Status quo der alternden Gesellschaft: Renten, Gesundheitsversorgung, Arbeit - daß dies alles nur materielle Früchte eines Volkes sind, dem es zuallererst gelingt, seinen Bestand zu erhalten, wird stoisch verschwiegen.

Es müßten jetzt aber klare Sätze fallen wie diese: "Die Ermüdungserscheinungen sind unübersehbar. Der gesellschaftliche Zusammenhalt zerfällt. Die Sozialverbände, an ihrer Spitze die Familie, befinden sich in Auflösung. Die abträglichen Nebenwirkungen des westlichen Lebensstils drängen stärker an die Oberfläche. Breite Bevölkerungsschichten suchen vor allem Ruhe und Zerstreuung. Mühen scheuen sie, zum Beispiel die Mühen, die mit dem Aufziehen von Kindern verbunden sind. Die Völker des Westens weisen nirgendwo mehr bestandserhaltende Geburtenraten auf. Vor allem aber plagen sie Zweifel an ihrer Zukunft. Oft handeln sie, als hätten sie keine." Der dies schreibt, ist Meinhard Miegel, konservative Kassandra, der in seinem neuen Buch eine "Epochenwende" kommen sieht: "Für den Westen geht ein goldenes Zeitalter zu Ende." Miegel sieht ein "eisernes Zeitalter" heraufziehen. Er hofft auf die "Anspannung aller geistig-sittlichen Kräfte". Er wünscht sie sich, wenn er auch ahnt, daß der "überbordende materielle Wohlstand" die dafür notwendigen Kräfte hat "erschlaffen lassen".

Die in satten Feuilletons verhallenden Appelle nach einem Sturm auf die Barrikaden durch saturierte Bürger, die im Hotel Adlon unter bedächtigem Beifall gehaltenen "Ruck"-Reden, sie illustrieren eher die feiste Szene einer gemütlich im Zeitlupentempo niedersinkenden Kultur, als daß sie die Erwartung auf ein grimmiges Sich-Zusammenreißen und die Wiederaufrichtung einer anderen Moral wecken.

Wahrscheinlich ist - leider - erst die weitere Verschärfung der Krise notwendig, bis die Erkenntnis zum Handeln alle erfaßt. Wie in New Orleans: Man wußte, daß die Deiche brechen werden, man hat dennoch auf ihre Verstärkung verzichtet.


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