© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/05 09. September 2005

Unverschuldet unversichert
Gesundheitspolitik: In Deutschland sind immer mehr Bürger nicht krankenversichert / Nebenwirkung von Hartz IV
Jens Jessen

Die Einführung von Hartz IV und die damit verbundene Gleichstel-lung arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger mit den Arbeitslosenhilfeempfängern durch die Überführung in das Arbeitslosengeld II (Alg II) hat nicht nur zu einer Verschlechterung der Lage der ehemaligen Arbeitslosenhilfeempfänger geführt. Sie hat in wachsendem Umfang ein neues Phänomen geschaffen, das für Deutschland bisher undenkbar war: Menschen, die nicht mehr krankenversichert sind.

1995 betrug die Zahl der Nichtversicherten, das heißt der weder in der Gesetzlichen (GKV) noch in der Privaten Krankenversicherung (PKV) abgesicherten Menschen, noch 105.000, 2005 wird von über 200.000 ausgegangen. Das wäre nicht so bedeutend, wenn es sich um die immer bemühten Besserverdienenden handelte, die jede Behandlung selbst zahlen können. Die sprunghafte Zunahme Nichtversicherter fällt mit dem Inkrafttreten von Hartz IV/Alg II zusammen. Ein weiterer handwerklicher Fehler der rot-grünen Regierung, der bisher noch nicht vollständig beseitigt worden ist.

2004 wurden die Sozialhilfeempfänger nach Paragraph 264 Sozialgesetzbuch V (SGB V) durch die GKV ohne eigene Mitgliedschaft in einer Kasse betreut. Mit dem Alg II ist diese Leistungshilfe der Kassen weggefallen. Jetzt müssen alle Alg-II-Empfänger Mitglieder einer Krankenversicherung werden.

Die "Arbeitsgemeinschaften" (Arge) als Zusammenschluß der Sozialämter und Arbeitsagenturen waren ausersehen, das Verfahren so unbürokratisch wie möglich zu gestalten: Der ehemalige Sozialhilfeempfänger beantragt bei der Arge in der Kasse X Mitglied zu werden, die Arge gibt den Wunsch an die Kasse X weiter, die dann die Mitgliedschaft bestätigt und dem Mitglied die Versichertenkarte zusendet. Die Fälle haben sich gehäuft, in denen die Arge die Mitgliedschaft in der gewünschten Kasse bestätigt, die Kasse aber davon nichts weiß. Die Folgen sind verheerend für diejenigen, die bei dieser Konstellation krank werden: die Kasse lehnt die Übernahme der Kosten ab.

Einiges spricht dafür, daß die Zahl der nichtversicherten früheren Sozialhilfeempfänger nicht das eigentliche Problem sind. Sie Sozial- und Erwerbsstruktur der Menschen ohne Versicherungsschutz nährt die Befürchtung, daß die Lücken im sozialen Netz größer werden. Rund 93.000 sind erwerbstätig. Die größte Gruppe sind die 32.000 Selbständigen, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Kassenbeiträge zu zahlen.

Auch zunehmend "Ich-AGs" und Selbständige betroffen

Das gilt auch für 28.000 Angestellte und 15.000 Arbeiter. 31.000 Erwerbslose kommen dazu und 82.000 Rentner oder "Nichterwerbspersonen". Darunter sind viele, die aus Armut die Beiträge zu einer GKV nicht aufbringen können. Dazu gehören gerade die, die sich in das Abenteuer "Ich-AG" gestürzt haben und nach kurzer Zeit gescheitert sind. Sie werden nirgends aufgefangen.

Es sind aber auch die Selbständigen, die durch die langfristige Zunahme der Arbeitslosigkeit und den daraus resultierenden Konsumverzicht der Bevölkerung am Rande des Ruins leben. Das sind die Versicherten in der PKV, die - älter geworden - heute nicht mehr die steigenden Beiträge zahlen können. Obwohl sie teilweise zwanzig oder dreißig Jahre rasant steigende Beiträge gezahlt haben, werden sie jetzt ausgejätet aus dem Pool der PKV-Versicherten.

Die Situation der unwissentlich nicht Versicherten nach Alg II führt zu Schwierigkeiten für die behandelnden Ärzte, Zahnärzte und Krankenhäuser. Besonders die ambulante Versorgung bekommt das zu spüren: die Kassen bezahlen Kopfpauschalen für die behandelten Versicherten, für die Nichtversicherten zahlen sie nicht.

Schwierig ist auch die Lage für die Krankenhäuser. Der landeseigene Berliner Klinik-Konzern Vivantes hat in seinem Rechnungswesen eine Kategorie "ungeklärte Versicherungsverhältnisse" installiert, zu der Obdachlose, Ausländer oder Besitzer gekaufter, gestohlener oder abgelaufener GKV-Karten gehören, die sich damit medizinische Leistungen erschwindeln.

Inzwischen ist es soweit, daß sich die Krankenhäuser um die Gruppe der Selbstzahler Sorgen machen, da hier große Ausfälle drohen, die in der schwierigen Situation vieler Krankenhäuser die wirtschaftlichen Grundlagen bedrohen. Vivantes hat im Jahr 2003 214.000 und 2004 rund 188.000 Patienten in der Ambulanz versorgt. Die Selbstzahler machten rund acht Prozent aus. Bei einem erheblichen Teil wurden die Rechnungen nicht beglichen.

Wie hoch die Zahl der Unversicherten unter diesen Patienten ist, kann nur geschätzt werden. Wahrscheinlich ist sie hoch. Deshalb werden neuerdings Selbstzahler-Patienten bei einer planbaren Behandlung nur noch aufgenommen, wenn bei Beginn der Behandlung eine Kostenübernahmeerklärung der Krankenversicherung vorliegt.

Noch handelt es sich um kein Massenphänomen. Schließlich geht es bei den Nichtversicherten "nur" um 2,5 Promille der Bevölkerung. Aber es geht auch um die Verdoppelung des Anteils dieser Bevölkerungsgruppe im Vergleich zum Jahr 1995. Der 108. Deutsche Ärztetag hat die Bundesregierung im Mai diesen Jahres aufgefordert, die Sozialgesetzgebung so zu ändern, daß die Zahl der Nicht-Krankenversicherten nicht weiter steigt, sondern zurückgeführt wird.

Das Beispiel der USA läßt die Gesellschaft der rundum gut Versorgten in unserem Land erschauern: 40 Millionen US-Bürger sind nicht krankenversichert, da sie sich eine Versicherung nicht leisten können.

Die Politiker jeglicher Couleur sollten sich rechtzeitig darum kümmern, daß die Angst der Bevölkerung nicht nur von drohender Arbeitslosigkeit geschürt wird, sondern auch vom möglichen Verlust des Schutzes vor den Folgen einer Krankheit. Dann wäre der Ruf nach einem durch Steuern finanzierten Gesundheitswesen nicht mehr zu unterdrücken. Das Argument wäre sogar verständlich: lieber ein staatliches System als gar keine Gesundheitsversorgung.


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