© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/05 09. September 2005

Die Hölle auf Erden
New Orleans: Binnen kürzester Zeit erleben die USA zum zweiten Mal, wie verwundbar sie sind
Tim König

Greg Henderson ist Arzt - Pathologe, um genau zu sein. Ein geschlossen im Ritz-Carlton Hotel in Downtown New Orleans, hat er mit Helfern in der Hotelbar ein Notlazarett errichtet und leistet medizinische Grundversorgung. Um ihn herum herrscht das blanke Chaos. Stromversorgung und Kommunikationssysteme sind zusammengebrochen, Nahrungsmittel und Trinkwasser sind nur begrenzt vorhanden, Plünderer ziehen durch die Stadt. Nachts sind Schüsse zu hören, und das Hochwasser ist mit Benzin, Exkrementen, Schmutz, Leichen und Kadavern stark verseucht. "Wir haben Angst vor einer Cholera-Epidemie", so Henderson in einer E-Post an Freunde und Verwandte, die inzwischen im Internet zirkuliert und in verschiedenen US-amerikanischen Zeitungen zitiert wurde.

Der Hurrikan "Katrina" hat die Südstaatenmetropole New Orleans in einen Ort des Grauens und Schreckens verwandelt. "Anarchie", "Gesetzlosigkeit und Verzweiflung", "Hölle auf Erden", so lauten in US-amerikanischen Zeitungen die Titelzeilen der letzten Tage. Ganz Amerika ist sprachlos, denn die einzige verbliebene Supermacht der Erde mußte zum zweiten Mal binnen vier Jahren erleben, wie verwundbar sie im eigenen Land ist.

"Wir haben Angst vor einer Cholera-Epedemie"

Nur kann dieses Mal niemand islamistische Terroristen für das Unglück verantwortlich machen. Wen dann? Die Gerüchteküche brodelt. Die einen versuchen, Hurrikan "Katrina" dem Präsidenten anzulasten, weil dieser das Kyoto-Protokoll zum Klimaschutz nicht unterzeichnen will. Für die anderen liegt die Ursache in der Hybris einer materialistischen Gesellschaft, deren ganzheitliche Folge die Erwärmung der Erde sei.

Während die Gemüter überhitzen, kommt in der mit Anti-Diskriminierungs- und Gleichstellungsgesetzen überzogenen US-amerikanischen Gesellschaft einmal mehr der latente Rassenkonflikt zutage. So werfen viele schwarze Bürgerrechtler und Politiker, unter ihnen der zweimalige Bewerber um die demokratische Präsidentschaftskandidatur Reverend Jesse Jackson, der Bush-Regierung vor, die Hilfeleistungen vorsätzlich verzögert zu haben, weil die größtenteils schwarze Bevölkerung in den Krisenregionen bei den letzten Präsidentschaftswahlen fast ausschließlich für den Demokraten John Kerry gestimmt hatte. Nur ein Gedanke ist den Menschen fremd - daß man sich gegen ein Naturereignis von diesem Ausmaß schwer schützen kann.

Dem staatlichen Krisenmanagement sind durch Hurrikan "Katrina" seine Schwächen und Mängel aufgezeigt worden. Nach dem verheerenden Tsunami in Südostasien im vergangenen Jahr hatte die Federal Emergency Management Agency (FEMA) New Orleans zwar ganz oben auf ihre Liste der möglichen Desaster gesetzt. Beim Durchspielen diverser Ernstfälle wie dem 1998 entwickelten Szenario "Coast 2050" wurde unter anderem auch ein Überlaufen der Deiche in Betracht gezogen. Daß diese brechen könnten, kam in keinem der Pläne vor. Und während Lokalpolitiker, Ingenieure und die Regierung in Washington über Pläne, Zuständigkeiten und Gelder stritten, verstrich wertvolle Zeit.

Insbesondere die Regierung in Washington wird scharf kritisiert, hatte sie doch das Budget des Army Corps of Engineers, das die Deiche errichtet hatte und für den Schutz vor Hurrikans in der Region um den Pontchartrain-See zuständig ist, von 14,25 Millionen Dollar im Jahr 2002 auf 5,7 Millionen Dollar in diesem Jahr gesenkt (zum Vergleich: der Krieg im Irak kostet Amerika täglich 186 Millionen US-Dollar).

In diesem Fall hat erschwerend - wie so oft in den USA - das Prinzip Hoffnung regiert: Man hofft einfach, daß alles gutgeht. Und solange es gutgeht, hat man recht. Geht es dann doch schief, wird sich nicht lang mit Schuldzuweisungen aufgehalten. Statt dessen blickt man wie Präsident George W. Bush lieber optimistisch in die Zukunft: "Ich habe keine Zweifel, daß wir erfolgreich aus dieser Krise hervorgehen werden. Neue Gemeinden werden sich entwickeln, die großartige Stadt New Orleans wird wieder auferstehen, und Amerika wird stärker sein als je zuvor."

Dennoch werden viele Fragen gestellt, wie die, warum nicht alle Menschen rechtzeitig evakuiert wurden. Der Bürgermeister von New Orleans, Ray Nagin, hatte am Tag vor dem Hurrikan zwar die Evakuierung der Stadt angeordnet, aber niemand wurde gezwungen, sein Heim zu verlassen. So etwas tue man in den USA - "the land of the free" - nicht, so ein Moderator einer lokalen Radiostation in New York. Ein folgenschwerer Fehler, wie sich im nachhinein feststellen läßt.

"Amerika wird stärker sein als je zuvor"

Während eine Stadt im Wasser und Chaos versinkt, scheint mit ihr auch jegliche Moral unterzugehen. Die Gouverneurin von Louisiana, Kathleen Blanco, ist zutiefst erzürnt über die Zustände. "Was mich am meisten ärgert, ist, daß Desaster wie diese normalerweise das Beste in den Menschen zum Vorschein bringen. Statt dessen brachte es hier das Schlechteste in ihnen hervor."

So werden die einen zu Helfern, die anderen zu Verbrechern. Bewaffnete Räuberbanden, Plünderer und Vergewaltiger ziehen durch die Stadt, weshalb sich viele Bürger nicht anders zu wehren wissen, als das Gesetz mit der Waffe in die eigenen Hände zu nehmen. "You loot, we shoot" - Du plünderst, wir schießen, so lautet die Devise. Shotgun im Arm und Revolver im Gürtel bewachen die Menschen das wenige, was vom Hurrikan verschont geblieben ist.

Was die wirtschaftlichen Schäden betrifft, liegen die Schätzungen zwischen 25 und 100 Milliarden US-Dollar. Die genaue Zahl wird erst in Wochen oder Monaten ermittelt werden können. Und während die Rettungsmaßnahmen langsam in Gang kommen, verarbeitet Wall Street die neuesten Informationen im Sekundentakt: zerstörte Infrastruktur, steigende Energiepreise, sinkende Aktienkurse, zunehmende Arbeitslosenzahlen, fehlende Steuereinnahmen - der Markt schluckt jede Neuigkeit schneller, als die Nachrichten aus der Krisenregion auf den Bildschirm flattern.

Die größten Sorgen bereiten den Medien und den Menschen in den USA die steigenden Spritpreise: 3,29 Dollar, 3,59 Dollar, 3,99 Dollar. Schon werden Vergleiche mit der großen Energiekrise des Jahres 1970 gezogen. Die Mineralölkonzerne waren die ersten, die auf die Zerstörungen im größten Energiereservoir der USA reagiert haben. Die Preise steigen, da das Angebot sinkt. Und die Autofahrer reagieren zunehmend nervös. Vielerorts bilden sich lange Schlangen an den Tankstellen, denn die Ungewißheit schürt die Angst vor noch höheren Preisen.

Langfristig liegt die Gefahr einer Inflationsspirale auf der Hand, denn steigende Spritkosten bedeuten, daß sich die Endverbraucherpreise vieler Produkte verteuern, wenn Speditionen und Lieferanten die Preiserhöhungen an ihre Abnehmer weitergeben. Bleibt es nicht bei der von Präsident Bush nach einem Treffen mit Notenbankchef Alan Greenspan erklärten vorübergehenden Unterbrechung der Ölförderung, dann könnte die größte Volkswirtschaft der Erde ins Stocken geraten.

Ob die für Amerikaner astronomischen Spritpreise langfristig zu einem Umdenken der Menschen beim Autokauf führen werden, bleibt abzuwarten. Einerseits haben Autohändler in der Vergangenheit vermehrt Fragen von Kunden nach dem Spritverbrauch der Fahrzeuge verzeichnet. Andererseits ist die Zahl der Käufer großer SUVs (Sport Utility Vehicles) trotz der kontinuierlichen Spritpreiserhöhungen der letzten Jahre erstaunlich stabil geblieben. Ob die Menschen in den USA, deren Sparquote im Juli dieses Jahres negative 0,6 Prozent betrug, auf den jetzt eingetretenen "Benzinschock" mit Konsumverzicht reagieren oder lieber ihren Wagen vermehrt in der Garage lassen, wird sich zeigen.

Erfreulich hoch ist wiederum das Spendenaufkommen von der Ost- bis zur Westküste, das schon vier Tage nach dem Desaster bei ca. 100 Millionen US-Dollar lag. Firmen appellieren an ihre Mitarbeiter, Tennisstars wie Andre Agassi oder Lindsay Davenport rufen im Fernsehen zu Spenden auf, die Profiligen im US-Sport beteiligen sich, am Geldautomaten wird man auf Spendenkonten hingewiesen. Nur der lokale Supermarkt hat noch nicht reagiert - hier wird man an der Kasse um Spenden für die Diabetesforschung gebeten.

Die von der deutschen Bundesregierung mit großem Presserummel angekündigte Bereitstellung deutscher Ölreserven sucht man in US-Medien übrigens vergebens. Deutschland spielt aus US-Sicht nur noch eine Nebenrolle.

Für die Medien in den USA ist die Tragödie ein gefundenes Fressen. Einerseits leidet man öffentlich mit den Menschen in der Krisenregion, freut sich gleichzeitig aber über die unglaublichen Einschaltquoten zur Hauptsendezeit. Der Fernsehsender Fox verzeichnet ein Plus von 112 Prozent, CNN einen Zuwachs von 336 Prozent und MSNBC gar einen Anstieg um 379 Prozent. Vermutlich wird das Interesse der Zuschauer schneller zurückgehen als das Hochwasser in New Orleans - spätestens wenn sich die Medienkarawane auf das nächste Großereignis stürzt.

Zweitklassige "Experten" für die "Fast-Food"-Gesellschaft

Mit der Zunahme der Berichterstattung schwindet leider auch deren Qualität. Die Berichte sind bis auf wenige Ausnahmen oberflächlich und dienen der Befriedigung einer "Fast Food"-Informationsgesellschaft, in der jede Nachricht in kleinen Portionen und leicht verdaulich produziert werden muß. Für Zusammenhänge und tiefgründige Recherchen ist kein Platz. Talkshows sind mit zweitklassigen "Experten" besetzt, die die ihnen zur Verfügung gestellte Sendezeit zur Selbstdarstellung nutzen. Ernstzunehmende Gesprächspartner müssen ihre Antworten in zehn- bis zwanzigsekündigen Informationshäppchen präsentieren, denn die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums ist kurz.

Greg Henderson bekommt von der Welt um ihn herum fast gar nichts mit. Seinen Humor hat er sich im Ritz-Carlton Hotel trotz der miserablen Zustände bewahrt: "Wenn ich schon von dieser Welt gehen muß, dann wenigstens an einem Ort mit einer guten Weinliste." Schrieb's, und machte sich auf, einen Drogeriemarkt zu plündern - unter Polizeischutz und mit offizieller Genehmigung.

 

Tim König, 29, arbeitet seit zwei Jahren als Kundenberater in einer New Yorker Werbeagentur. Er studierte in Berlin, Paris und Austin (Texas) Betriebswirtschaftslehre.

 

Stichwort: US-Südstaatenmetropole New Orleans

Die größte Stadt im US-Bundesstaat Louisiana wurde 1718 als La Nouvelle-Orléans von dem Franzosen Jean Baptiste Le Moyne gegründet. 1803 verkaufte Napoleon Louisiana für 15 Millionen Dollar an die USA. Damals hatte die Stadt etwa 10.000 Einwohner, 2005 waren es 490.000, in ihrem "Metropolitan Area" lebten insgesamt 1,3 Millionen. In New Orleans gab es 67 Prozent Schwarze und 28 Prozent Weiße sowie etwa drei Prozent Hispanics, zwei Prozent Asiaten und 0,2 Prozent Indianer. Die Stadt mit einer Fläche von 467,6 Quadratkilometern Land und 439,4 Quadratkilometern Wasser liegt am Knotenpunkt des Gulf Intracoastal Waterway, des Mississippis und des Mississippi River-Gulf Outlet-Kanals und ist zweitgrößter Seehafen der USA. 1965 erlebte New Orleans den bis dahin schlimmsten Hurrikan - "Betsy" setzte einen Großteil der Stadt unter Wasser und machte viele Tausende obdachlos.


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