© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/05 09. September 2005

Vorwärts in die Tradition
"Untergang des weißen Mannes": Der Schriftsteller Matthias Politicky schlägt in der "Zeit" ganz unerhört vitalistische Töne an
Thorsten Hinz

Da sage noch einer, es bewege sich nichts in Deutschland! Es ist nicht lange her, daß im Feuilleton der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit das ultraliberale Rumpelstilzchen Richard Herzinger darüber wachte, ob irgendwo im Kulturbetrieb sich Links- und Rechtsabweichler bemerkbar machten. Treffsicher entlarvte er "vitalistische" Kunstkonzepte à la Heiner Müller und Botho Strauß, zerrte verborgene Antimodernismen, Restbestände völkischen Denkens und ideologische Verspätungen ans Tageslicht und definierte Spengler & Co. als Versager vor den Herausforderungen der Freiheit. Inzwischen hat er bei der Zeit abgemustert, und niemand hat ihn je vermißt.

Dafür erschien dort in der vergangenen Woche ein Aufsatz, den der Schriftsteller Matthias Politicky ("Weiberroman") unter dem Eindruck seiner Reisen durch Dritte-Welt-Staaten und aufstrebende Wirtschaftsmächte in Fernost verfaßt hat. Politicky konstatiert die schlichte Tatsache, daß die Europäer (und also auch die Deutschen) den Nichteuropäern entweder physisch-sexuell oder intellektuell-ökonomisch unterlegen seien. Hautnah hat er erlebt, wie das europäisch-deutsche Toleranz- und Aufklärungsvokabular in der Konfrontation mit karibischer oder arabischer Virilität und mit der ökonomischen Machtpotenz Ostasiens zu Asche zerfällt.

Was bleibt, sind die eigenen Minderwertigkeitskomplexe und Überwältigungsängste. Die Vitalität der anderen wurzele in "einem bestürzend ungebrochenen nationalen Selbstbewußtsein, einem ungeschmälerten Stolz auf die eigene 'überlegene' Kultur". Und die Europäer? Denen drohe jetzt sogar die kulturelle Demütigung, zu der sie mit ihrer Selbstpreisgabe an den "Weltkulturstrom" einer "grassierende Pseudoamerikanisierung" selber beitrügen.

Sieht er eine Chance, den "Untergang des weißen Mannes" (!) abzuwenden? Auf keinen Fall möchte er eine "krawattengeschnürte konservative Revolution ausrufen", was jedoch vor allem als Seitenhieb gegen seinen Schriftstellerkollegen Uwe Tellkamp ("Der Eisvogel", JF 20/05) zu verstehen ist, der jüngst ein von Politicky mitunterzeichnetes infantiles Literaturmanifest an derselben Stelle süffisant abgekanzelt hatte.

Verzweifelter Wille zur Selbstbehauptung

Im Grunde ist es auch egal, mit welchem Begriff man Politickys - als Frage formulierte - Forderung nach einem "mitteleuropäischen Fundamentalismus" und der "Reduktion" kritischer Vernunft, um "wieder an (unsere) vitalen Wurzeln zurückzukommen", überwölbt. Aber lassen sich Transzendenz und ein via Aufklärung zerstörter Sinnzusammenhang durch einen Willensakt überhaupt wieder herstellen? In diesen Bereich dringt der Autor nicht vor. Sein Text besitzt eine andere Qualität: In ihm bäumt sich ein verzweifelter Wille zur Selbstbehauptung auf, der ohne Macht freilich folgenlos und deshalb in kulturelle Gegenstrategien und politische Entscheidungen zu übersetzen wäre.

Politickys Aufsatz zeigt, daß die Kenntnis der wirklichen Gefährdungen unserer kulturellen und politischen Existenz viel weiter verbreitet ist, als man aufgrund des Stumpfsinns, der die Öffentlichkeit beherrscht, glauben konnte. Man darf sich ermutigt fühlen.


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