© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/05 09. September 2005

Leben mit Krallen, Hörnern und Zähnen
Jüngers Lektüren, achter Teil der JF-Serie: Ernst Jüngers Spiegelungen im Werk des Marquis de Sade
Harald Harzheim

Im 19. Jahrhundert wurde er entwe der totgeschwiegen oder hem mungslos diffamiert. "Höllendoktor des Materialismus" oder "Bluthusten der europäischen Kultur" sind noch harmlose Beispiele für die Ehrentitel, die man ihm verlieh. Die Psychiatrie las seine Werke als Perversionenkatalog und benannte den "Sadismus" nach ihm. Erst die Surrealisten, allen voran Guillaume Apollinaire und André Breton, rehabilitierten ihn als Schriftsteller und Philosophen, stilisierten ihn sogar zum "göttlichen Marquis": Donatien Alphonse François Marquis de Sade.

Bereits zu Lebzeiten war der 1740 im südfranzösischen La Coste geborene Sade eine Legende. In jungen Jahren drohte er mit seinen öffentlich zelebrierten Orgien den bereits bröckligen Ruf des Adels endgültig zu ruinieren. Also sperrte man ihn in die Pariser Bastille.

Im Zuge der Französischen Revolution wurde er befreit, zum Konventabgeordneten ernannt und später - als ehemaliger Adeliger - zur Guillotine verurteilt. Nur dank der chaotischen Zustände jener Zeit entging er diesem Schicksal. Als Napoleon die Macht ergriff, ließ er Sade ins Irrenhaus bei Charenton sperren. Als Grund können die "skandalösen" Romane gelten, die der Marquis bis dahin publiziert hatte. In der Irrenanstalt realisierte er legendär gewordene Theaterinszenierungen mit den dortigen Insassen als Darstellern. 1814 starb er in Charenton.

Kein Wunder, daß die Surrealisten ihn verehrten

Sade, das war ein Leben hinter Gittern. In den Haftanstalten schrieb er die meisten seiner berüchtigten Romane wie "Les 120 Journées de Sodome ou L'École du Libertinage" (1785, erstmals 1904 veröffentlicht) oder "Justine" (1791): schwarze Märchen, deren bizarre Orgien ein Verfremdungsmittel darstellen, um die - rationalistisch getarnte - Grausamkeit von Natur, Mensch und Gesellschaft rücksichtslos zu demaskieren. Ist es da verwunderlich, daß die Surrealisten, die eine Sprengung von Rationalität und Konvention verlangten und statt dessen auf die Macht der Träume und Phantasie setzten, ihn zu ihrem Heiligen erklärten?

Auch "Das abenteuerliche Herz" (1927) von Ernst Jünger, einer der wenigen deutschen Beiträge zum Surrealismus, stilisiert seine Gegenwart zum irrationalen Alptraum. Deshalb darf es kaum als Zufall gelten, daß ein Kapitel der Auseinandersetzung mit dem Marquis de Sade gewidmet ist. Auch wenn Jünger die Manifeste des Surrealismus nicht kannte, erriet er intuitiv, daß de Sade der eigentliche "Großmeister dieses Ordens" war (Strahlungen, 9. März 1943). Aber im Gegensatz zu seinen französischen Kollegen bewunderte Jünger den Marquis nicht, sondern stand ihm höchst ambivalent gegenüber.

Da Sades Werke in den zwanziger Jahren wenig übersetzt, meist verboten und kaum greifbar waren, dreht sich Jüngers Kurzessay ausschließlich um "La Philosophie dans le Boudoir", die der Marquis 1794 schrieb - als er im Kerker der Französischen Revolution auf seine Guillotinierung wartete. Es handelt sich um ein 300seitiges, in Form platonischer Dialoge gehaltenes Traktat über Mädchenerziehung. Darin wird die 15jährige Eugénie de Mistival von drei Libertins in die Philosophie des Atheismus, der Ungültigkeit aller ethischen Werte und der Libertinage eingeführt. Letztere erfährt in Form von Orgien praktische Untermauerung. Im Finale wird Eugénies Mutter für die sittenstrenge Erziehung ihrer Tochter bestraft: Ein syphilitischer Libertin infiziert sie mittels Vergewaltigung mit seiner tödlichen Krankheit.

Jünger schreibt dazu: "In diesen Tagen schloß ich durch Zufall Bekanntschaft mit der 'Philosophie du Boudoir' (!) des Marquis de Sade. Dies ist ein Geist, der über einen Rousseau mit Konsequenz hinausgelesen hat (...). Dies ist der Erdwolf, der heulend durch die Kloaken jagt, mit feuchtem, klebrigen Fell und dem unersättlichen Fleischhunger, der endlich Blut säuft und die Abfälle des Lebens frißt. Jeder Trunk aus den roten Bechern ist wie Meerwasser, das den Durst immer rasender macht." Jünger beschreibt Sades Stil, "so die Trennung der Worte und Satzfetzen durch Gedankenstriche, die die Sprache des Atems beraubt und sie in ein Röcheln und Stöhnen zerreißt; so das endlose Aneinanderreihen synonymer Worte für Handlungen und Gegenstände, die dadurch sinnfälliger und gieriger ertastet werden sollen - die Sprache bohrt sich mit glühenden Stacheln ins Fleisch." Diese Analyse Sadescher Sprache wird er im "Lob der Vokale" (1934) unter anderem als "Spiel von Mitlauten" präzisieren.

Nun hat Sade den Menschen tatsächlich zum hungrigen Raubtier erklärt, dessen höchste sexuelle Lust im Tötungsakt besteht. Aber auch Ernst Jünger schrieb in "Feuer und Blut" (1925), daß immer noch "viel Tier" im Menschen sei, das in der Ekstase der Schlacht die Zähne fletsche, so daß der Krieg stellenweise den Charakter einer Orgie erhält. Trotzdem erfährt dieses Animalische beim frühen Jünger einen metaphysischen Überbau und eine geschichtliche Sinngebung. Beides entfällt bei dem Materialisten Sade und wird durch reinen sexuellen Lustgewinn ersetzt. Dennoch kann Jünger ihm die Anerkennung nicht versagen, zumal sich beim Marquis auch das Kriegerische und "Dämonische" des Lebens überdeutlich zeigt. So daß Sade "für meinen Geschmack auch weit lesbarer (ist) als Rousseau. In ihm stellt sich, freilich in einer abnormen und höchst widerwärtigen Erscheinung, das Leben mit Krallen, Hörnern und Zähnen zum Kampf."

Jünger sieht in Sade den Anarchisten, der ihm um so vieles sympathischer war als der Kommunist, wobei zwischen "beiden ein sehr ähnliches Verhältnis besteht wie zwischen Sade und Rousseau". Diese Sätze, die sowohl ambivalente Nähe wie politische Aktualität spiegeln, sind in der zweiten Fassung vom "Abenteuerlichen Herzen" (1938) gestrichen bzw. ersetzt. Jetzt wird ihm die "Bestialität" der Sadeschen Menschen zum Symbol einer sehr realen, aktuellen Gefahr.

Anstelle der eliminierten Passage findet sich eine Warnung: "Das Ganze liest sich beängstigend, und zwar weniger wegen der Schrecknisse als wegen der vollkommenen Sicherheit, mit welcher der Geheimvertrag, der zwischen den Menschen besteht, durchbrochen wird. Der Eindruck ist etwa so, als wenn jemand im Zimmer die Stimme erheben würde: 'Da wir nun unter uns Tieren zusammen sind - - - '".

Der Bruch der "Geheimverträge", die Mißachtung der Menschenwürde, das war 1938 bereits Realität, deshalb liest sich Sades Text nun als Prophetie "beängstigend". Jüngers Versuch, den Faschismus durch Sade zu reflektieren, würde noch viele Nachfolger finden und in Pasolinis Film "Salò o le 120 giornate di Sodoma" (1975) zum Höhepunkt gelangen. Schließlich erkannte Jünger "neurotischen Einflüssen die Initialzündung für Offenbarungen" zu, wie er in Bezug auf Joris K. Huysmans schrieb, dessen Prosa "an Sade erinnert und sichtlich bei ihm zur Schule gegangen ist" (Kirchhorster Blätter, 18. März 1945).

Die Sprache bohrt sich mit glühenden Stacheln ins Fleisch

In Paris las er Jean Desbordes' "Le vrai Visage du Marquis de Sade" - und bewies erneut unmittelbares Verständnis: "Merkwürdig ist das Maß, in dem das Schändliche sich an diesen Namen heftete und so verdichtete wie in kaum einen anderen. Das ist nur verständlich aufgrund der höheren Potenz der Feder und des Geistes: das schändliche Leben wäre längst vergessen ohne die schändliche Autorschaft" (Strahlungen, 18. September 1943).

Und genau das hatte Sade nach eigenem Bekenntnis mit seiner Autorschaft gewollt: ein in Ewigkeit unvergeßliches "Verbrechen" begehen.

Als nach dem Krieg die Frage nach literarischer Vorläuferschaft für praktische Untaten brennende Aktualität erhielt, bezieht Jünger seinen Reflexionsbeitrag wieder auf Sade: "Bei Sade schließt sich der Zote unmittelbar die Gewalttat an. Sie gibt das Stichwort; der erste Tabubruch zieht alle anderen nach. (...) Erst kommt die Entwürdigung durch Worte, dann durch die Tat." (Kirchhorster Blätter, 20. April 1948)

Über die Richtigkeit dieser Feststellung mag man streiten. Auch darüber, ob Jünger - wie er später selbstkritisch einräumte - durch seine politische Publizistik wirklich Mitverantwortung für die spätere Machtergreifung Hitlers trug. Wichtig ist an dieser Stelle die Erkenntnis, daß Sade für ihn lange Zeit ein ungeliebter, aber notwendiger Spiegel war: zum Verständnis seiner Zeit und seiner eigenen Rolle in ihr.

Bild: Marquis de Sade: "Der Erdwolf, der heulend durch die Kloaken jagt"

 

Zeit seines Lebens war der Schrift steller Ernst Jünger (1895-1998) ein großer Leser. Mehr noch: Lektüre stellte einen Teil seiner Existenz dar. Spuren dieses Lesens durchziehen sein Werk - von den "Stahlgewittern" bis zu "Siebzig verweht V". Um Jünger zu verstehen, muß man diesen Spuren folgen, leiten sie doch zu Bedeutungsräumen, die hinter dem Text verborgen liegen. Jünger lesen heißt also "Spuren-Lesen". Diese JF-Serie versucht, einige Fährten aufzunehmen und ansatzweise zu entziffern. Und sie will natürlich auch zur Lektüre von Jüngers Lektüren anregen.

 

Harald Harzheim ist Schriftsteller, Dramaturg und Filmhistoriker. Derzeit arbeitet er an einer Abhandlung über Ernst Jüngers "Dämonologie des Films". In der JF schrieb er im Rahmen dieser Serie über Maurice Barrès (JF 23/05). Außerdem erschienen bislang Beiträge von Alexander Pschera über Hermann Löns (JF 05/05), Léon Bloy (JF 09/05), Franz Kafka (JF 14/05), Aldous Huxley (JF 18/05) und Otto Weininger (JF 28/05) sowie ein Beitrag von Alexander Michajlovskij über Dostojewski (33/05).


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