© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/05 09. September 2005

Heißkalte Moskauer Nächte
Vor fünfzig Jahren reiste Kanzler Adenauer in die sowjetische Hauptstadt, um die Kriegsgefangenenfrage zu lösen
Andreas Graudin

Als am 7. Juni 1955 in der bundesdeutschen Botschaft in Paris ein telefonisch angemeldeter diplomatischer Kurier erschien und eine Note überreichte, in der Kanzler Adenauer verklausuliert nach Moskau eingeladen wurde, war dies die eigentliche außenpolitische Überraschung des ereignisreichen Jahres 1955.

Die Pariser Verträge und Nato-Beitritt der Bundesrepublik und die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages hatten sich lange abgezeichnet. Der westdeutsche Teilstaat war in Grenzen souverän geworden, worauf sich die sowjetische Führung unter der Troika Chruschtschow, Bulganin und Molotow überraschend geschmeidig einzustellen begann. Die Westmächte und Polen wurden komplett überrumpelt und reagierten hilflos oder nervös. Das Politbüro der SED wurde nur Stunden vor Überreichung der Note informiert. Weil die Hetze in der sowjetischen Presse gegen den "revanchistischen Adenauerstaat" kurz vorher trotz KPD-Verbotsverfahrens abebbte, hatte man sich in Pankow auf diese Wendung eingestellt. Plötzlich wurden nicht nur in den Kommentarspalten des Auslands die alten Gespenster namens Tauroggen oder Rapallo wach.

Werner Kilian, selbst erfahrener Diplomat, zeichnet in gut lesbarer und zugleich wissenschaftlich anspruchsvoller Weise den persönlich wohl schwierigsten diplomatischen Drahtseilakt des Rhöndorfers nach. Einiges war schon bekannt. Hinzu kommt bei Kilian nun die Auswertung der einschlägigen DDR-Akten.

Die Debatte im Bundeskabinett, ob diplomatische Beziehungen zur UdSSR dem aus dem Grundgesetz abgeleiteten Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik für das ganze Deutschland abträglich seien, nahm die Argumente der immer umstrittenen deutschen Ostpolitik späterer Jahrzehnte vorweg. Vor seinem Flug klärte Adenauer intern und mit den Westalliierten die grundsätzliche Verhandlungsposition: kein Rütteln an der Westbindung und freie Bündniswahl eines geeinten Deutschland. Jahrzehnte später sollte dies die Sowjetführung einem "Enkel" Adenauers zugestehen. 1955 war klar, daß sich die UdSSR auf diese Formel nicht einlassen würde. Es blieben also die Kriegsgefangenen und Zivilverschleppten in den sowjetischen Lagern als zu fordernder realistischer Preis für diplomatische Beziehungen.

Deren Zahl und Status war umstritten und ist verwirrend. Sichere Lebenszeichen hatte man von 11.160 Personen. Deutsche Schätzungen gingen von mehr als der zehnfachen Zahl aus, was vielfach Wunschdenken war, da viele Kriegsgefangene das Jahr 1955 gar nicht mehr erlebten. Etwa 20.000 kehrten schließlich heim. Alle waren von der UdSSR zuvor als "Kriegsverbrecher" umdeklariert worden. Ihre Rolle als Faustpfand stand schon Jahre vorher fest.

Auch erzählerisch gelungen schildert Kilian den Ablauf des Besuchs, den perfekten Empfang mit militärischen Ehren, die ständigen Ausweichmanöver der Sowjets, die jedesmal über Wirtschaftsfragen sprechen wollten, sobald die Kriegsgefangenenfrage angeschnitten wurde, der lange Ballettabend mit "Romeo und Julia" im Bolschoj-Theater, ein ständiges Wechselbad von Gesten sowjetischer Zuneigung abgelöst von schroffen Vorwürfen. Bulganin fabulierte von 100.000 zurückgehaltenen russischen "Fremdarbeitern" in Westdeutschland und konfrontierte Adenauer mit kleinen Ballons, die mit dem Westwind Flugblätter von Emigrantenorganisationen in Deutschland tief in die UdSSR trugen.

Am dritten Verhandlungstag drohte der Eklat, trotz einer versöhnlichen Ansprache Carlo Schmids zieh der Generalsekretär der KPdSU Adenauer der Kriegsvorbereitung gegen die Sowjetunion. Adenauer packte demonstrativ seine Unterlagen zusammen und gab damit der deutschen Delegation das Signal zum Aufbruch. Die Entschlossenheit machte Eindruck. Der gleiche Abend brachte den Durchbruch. Das Wort Chruschtschows und Bulganins mußte genügen, aber die prinzipielle Freilassung aller deutschen Gefangenen war vor Zeugen vereinbart. Letzte Hürde war das Vorbehaltsprotokoll. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen sollte ausdrücklich keine Grenze anerkennen und den Anspruch der Bundesrepublik Deutschland auf Alleinvertretung des ganzen Deutschlands unberührt lassen. Einen entsprechenden Brief quittierte die Staatsführung der UdSSR am Tag der Abreise der deutschen Delegation einem deutschen Kurier. Wenigstens hat so die Sowjetunion den deutschen Rechtsstandpunkt offiziell zu Kenntnis nehmen müssen, ohne ihn je zu teilen.

Am Ende gab es nur Sieger: Die UdSSR hatte ihr Ziel der Herstellung diplomatischer Beziehungen zu einem moderaten humanitären Preis erreicht und Adenauer seine Wiederwahl gesichert. Zudem vergrößerte dieser Schritt zumindest theoretisch den politischen Handlungsspielraum der Bundesrepublik. Es brauchte von nun an nicht über Dritte mit der Sowjetunion verhandelt werden. Bei aller Verhärtung der Beziehungen während des Kalten Krieges hielten Deutsche und Russen diesen Kanal immer offen. Angesichts des geteilten Deutschland und großer deutscher Minderheiten im kommunistischen Block und auch um gelegentlich die DDR-Führung diskret in die Schranken verweisen zu lassen, war dieser Weg alternativlos.

Neben der großen Politik beleuchtet Kilian anekdotisch auch die kleinen Eitelkeiten der Staatsmänner jener Tage, so Pressesprecher Felix von Eckardts Verdruß, im Hotel Sowjetskaja nicht wie Kurt Georg Kiesinger einen Flügel zur Verfügung zu haben. Er bekam schließlich ein Klavier und spielte aus Protest gegen diese Zurücksetzung statt Mozart "Alte Kameraden". Das Hin und Her um das nachträgliche Gastgeschenk für Bulganin zeigte aber auch Adenauers souveränen Humor: "Wenn Sie uns den Semjonow schicken, kriegen Sie den Hallstein." Keine Sensation, aber eine Neuigkeit, denn Adenauer und Bulganin kannten sich seit 1931. Der Kölner Oberbürgermeister und der junge Sowjetkader auf Studienreise hatten damals Bruderschaft getrunken.

Insgesamt hat Kilian ein wichtiges Buch zur deutschen Diplomatiegeschichte geschaffen, das durch seine ergänzende Forschung sogar eine Lücke schließen kann.

Foto: Adenauer mit Bulganin am Moskauer Flughafen Wnukowo: Diplomatische Beziehungen mit moderatem humanitären Preis erreicht

Foto: Spätheimkehrer 1955 in Friedland: "Wir danken Dr. Adenauer"

Werner Kilian: Adenauers Reise nach Moskau. Herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Herder Verlag, Freiburg 2005, 381 Seiten, broschiert, 15 Euro


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