© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/05 09. September 2005

Roßkur für den deutschen Patienten
von Wilhelm Hankel

Deutschland wählt zwischen zwei Übeln: Rot-Grün versucht den "neoliberalen" Gegner mit dessen eigenen Waffen zu schlagen und zerstört mit dem Sozialabbau sich selbst. Angela Merkel setzt auf die weltfremden Ideen zweier Ex-Verfassungsrichter. Doch Herzogs "Kopfpauschale" und Kirchhofs "flat tax" führen in den Staatsbankrott. Sie oder Er: Der neue Regierungschef müßte eine Mischung aus Ludwig Erhard und Karl Schiller sein.

Die bevorstehenden Wahlen entscheiden nichts. Weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb führen mit ihren Reformkonzepten den Aufschwung herbei. Weder werden genug neue Arbeitsplätze geschaffen noch die Staatsfinanzen nachhaltig saniert. Der Pegel der Arbeitslosigkeit wird nicht sinken: im Osten des Landes noch weniger als im Westen. Jetzt wird Rot-Grün gewogen und zu leicht befunden, eine Legislaturperiode weiter ist die Kanzlerin in spe Merkel dran.

Noch immer fehlt es an einer gründlichen Ursachenerforschung der deutschen Misere. Sie geht auf die beiden Strukturhypotheken zurück, die Über-Kanzler Helmut Kohl seinem Volk und seinen politischen Erben hinterlassen hat. Nach Kohl ist das Regieren in Deutschland schwierig geworden.

Kohls Regierung hat mit der Zerschlagung der früheren DDR-Wirtschaft (ruinösen Umrechnungskursen von Ost- zu D-Mark und einer als "Privatisierung" deklarierten Verramschung) die Grundlage für die heutige Überforderung der (west-)deutschen Staatsfinanzen und das zähe Fortleben der alten kommunistischen Kader in Mitteldeutschland gelegt. Oskar Lafontaine hat ihnen ein neues und attraktiveres Label geliefert.

Mit der Preisgabe der D-Mark hat die Kohl-Regierung dem deutschen Volk nicht nur die beste Währung seiner Geschichte genommen (wie üblich ohne es zu fragen). Noch verheerender wirkt sich im Zeitalter von Globalisierung, europäischem Binnenmarkt und der an die Stelle der Mark getretenen Gemeinschaftswährung der Verzicht auf ein nationales wirtschaftspolitisches Instrumentarium aus. Monetär wehrlos gemacht und fiskalpolitisch auf die Brüsseler Mitbestimmung festgelegt, kann keine deutsche Regierung mehr eigene Wirtschaftspolitik betreiben und Binnenmärkte und -standorte vor unlauterem Wettbewerb von draußen und importierten Krisen schützen.

Das von Ludwig Erhard und Karl Schiller geschaffene und erprobte Besteck moderner "Feinsteuerung" der Volkswirtschaft steht nicht mehr zur Verfügung - es ist entweder abgeschafft oder auf europäische Organe (Brüsseler Kommission, Europäische Zentralbank) übertragen worden. Lediglich der Himmel kann die Soziale Marktwirtschaft vor ihrem Tod auf Raten in einer nicht mehr zu meisternden Dauerkrise bewahren. Kohl, trotz "Bimbes" und Er-fahrungen in Sachen Parteienfinanzie-rung ein ökonomischer Laie, hat das Land dem Diktat europäischer Bürokraten und den Interessen und Launen globaler und anonymer Märkte ausgeliefert.

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Monetär wehrlos gemacht und fiskalpolitisch auf die Brüsseler Mitbestimmung festgelegt, kann keine deutsche Regierung mehr eigene Wirtschaftspolitik betreiben und Binnenmärkte und -standorte schützen.

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Der Mensch fungiert in dieser Welt(wirtschaft) nur noch als "Produktionsmittel", wie in den Zeiten vor Sozialstaat und Aufklärung. Das Humankapital dankt vor dem Finanzkapital ab. Ob sich aus diesen "neoliberalen" Bausteinen (sie waren Bestandteil des vorläufig gescheiterten europäischen Verfassungsentwurfes) ein demokratisches Gesamt-Europa herstellen läßt? Der Zweifel an diesem Köhler-Glauben ist berechtigt.

Vor diesem Hintergrund müssen die Konzepte und Richtungskämpfe der streitenden Parteien gesehen und beurteilt werden. Rot-Grün hat sich nach dem Abgang Lafontaines (Frühjahr 1999) etwas Geniales einfallen lassen. Bundeskanzler Gerhard Schröder versucht, seiner Partei klarzumachen, daß sich das im politischen Nest vorgefundene "europäisch-neoliberale" Kuckucksei für die eigenen politischen Ziele instrumentalisieren lasse. Man müsse den politischen Gegner mit dessen eigenen Waffen schlagen: mit Lohnverzicht und Sozialabbau, "Agenda 2010" und "Hartz IV". Das Ganze wird abgerundet durch üppige Steuergeschenke an Big Business (Eichels "Steuerreformen").

Unter allen SPD-Kanzlern präsentiert sich Gerhard Schröder als verläßlichster Genosse der Bosse. Und Hans Eichel? Man weiß nicht so recht, ob er Garant dieser Politik oder nur tumber Tor ist, der nicht klar sieht, was er anrichtet. Seine permanenten und peinlichen Haushaltskorrekturen lastete er den Konjunkturforschern an - als ob sie und nicht er für die Verwaltung der Staatsgelder verantwortlich wären.

Statt sich über die Steuerpolitik neue Einnahmequellen zu erschließen, verteilte er, beraten durch einen lobby-istischen Staatssekretär, dubiose Steuergeschenke, ordnete Systembrüche an und verweigerte dem Finanz-Föderalismus die längst überfälligen Korrekturen. Die Doppelbesteuerung von Aktien wurde wieder eingeführt, die einheitliche Gewinnbesteuerung für die Unternehmen aufgehoben und die Reformkommission für die Gemeindefinanzierung rüde nach Hause geschickt.

Der Mittelstand, größter Arbeitgeber (zwei Drittel der Beschäftigten), gewerblicher Steuerzahler (99 Prozent der Betriebe) und Anbieter von Ausbildungsplätzen (über achtzig Prozent von allen), ging leer aus. Seine heroischen Versuche, die Überlebenschancen der kleineren und mittleren Unternehmen im Wettbewerb durch verstärkte Reinvestition von Gewinnen und eine Verbreiterung der Eigenkapitalbasis zu verbessern, fanden steuerlich keine Anerkennung.

Hans Eichel blieb verborgen, daß Mittelstandsförderung in Deutschland "alles Notwendige in einem" ist: Beschäftigungs- und Regionalpolitik, Gegengewicht zu Globalisierung, Abwanderung und Über-Rationalisierung, Schutz von Marktwirtschaft und Wettbewerb vor der Austrocknung durch Monopole, zweiter Bildungsweg am Arbeitsplatz und innovative Frischzelle, gemessen an der Zahl der Patente. Seine Fürsorge galt wie die seines Kanzlers den "Global Players", Standort-Wechslern und Arbeitsplatz-Exporteuren, die nur das Nötigste und oft noch weniger für Binnen-Konjunktur und Arbeitsmarkt, für die Lehrlingsausbildung und die Stärkung der Staatsfinanzen leisten. Sie sind zwar an der guten Infrastuktur des Landes interessiert, nehmen sie gerne in Anspruch, wollen aber nichts für sie zahlen. Aus Eichels Kasse durften sie in den Jahren 2001 bis 2003 mehr herausholen, als sie einzahlten.

Darüber hinaus honorierten Eichels Beamte (die unter seiner Aufsicht stehende Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht - BaFin) den Ausstieg der Banken aus der Kreditversorgung des Mittelstandes. Unter den Stichworten "Basel I" und "Basel II" erhielt die Kreditwirtschaft das Recht, sich gerade vor ihren schwächsten Kunden zu schützen und eigene Kreditrisiken auf diese zu verlagern. Eichels Förderbank (die bundeseigene KfW-Gruppe) "durfte" sich dieser Praxis anschließen. In der Realität sah die rot-grüne Innovationsförderung - und Innovationen sind immer Risiken - anders aus, als ihre öffentliche Rhetorik sie darstellte.

Als die Kommunen ihren fairen Anteil am Steueraufkommen einklagten, brach das Haus Eichel die Verhandlungen ab. Dabei finanzieren sie immerhin zu siebzig Prozent jene öffentlichen Investitionen, die die Lebensqualität der Bürger verbessern (Schulen, Krankenhäuser, die Bereitstellung von sauberem Wasser, staubfreier Luft, Freizeitparks, Kultur etc.), sind aber nur mit zwölf Prozent am Steueraufkommen beteiligt. Wie viele vernünftige Projekte hätten seine Ressortkollegen in Angriff nehmen können, wenn die fünfzig und mehr Milliarden Euro aus zu streichenden Steuergeschenken und überflüssigen Beihilfen und Subventionen zur Verfügung gestanden hätten.

Mit einem anderen Finanzminister hätte Schröders Versuch, linke Politik mit rechten Mitteln zu machen, durchaus Erfolg haben können. Eichel hat den Staat ärmer gerechnet, als er es realiter war, und damit die Sparzwänge an allen Ecken und auf allen Bereichen dramatisch verschärft - vom Sozialen bis zur Kultur. Für die boden- und mittelständische Wirtschaft war und blieb er ein größeres Planungsrisiko als sein unberechenbarer Vorgänger Lafontaine.

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Deutschland kann sich "Reformen" à la Herzog und Kirchhof einfach nicht leisten. Die mit ihnen verbundenen Steuerausfälle wären gewaltig. Es entständen Mindereinnahmen um die fünfzig Milliarden Euro per anno.

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Und das schwarz-gelbe Gegenkonzept? Die Kanzlerin in spe scheint zu glauben, so etwas brauche man nicht. Nur so läßt sich der Kontrast zwischen dem Dauerlächeln der angehenden Siegerin, den verwirrenden Dissonanzen im eigenen Lager und den bizarren Plänen ihrer beiden Lieblingsberater, der Ex-Verfassungsrichter Roman Herzog und Paul Kirchhof, erklären. Altbundespräsident Herzog will ein Herzstück des deutschen Sozialstaates, das Gesundheitswesen, dadurch sanieren, daß er es sowohl privatisiert wie sozialisiert. Eine "Kopfpauschale" (inzwischen heißt sie "Gesundheitsprämie"), die jeder gesetzlich Versicherte als monatliche Zwangsabgabe zu entrichten hat, soll die Grundlast abdecken. Reicht sie nicht aus, was jetzt schon feststeht, gehen die Zusatzkosten voll zu Lasten des Steuerzahlers. Entlastet von diesem Teil der "Lohnnebenkosten" wird einzig und allein der Arbeitgeber. Doch ob er deswegen mehr Leute einstellt, mag auch der Nach-Erfinder dieses auf einen rot-grünen Professor zurückgehenden Projektes nicht garantieren.

Professor Kirchhof, der inzwischen zum Star des Merkelschen "Kompetenzteams" avanciert ist, hat sich zum Ziel gesetzt, das deutsche Steuersystem mit dem ältesten Relikt der Finanzgeschichte zu sanieren: einer gleich hohen "flat tax" für alle Bürger, unabhängig von ihrem Einkommen, ihren persönlichen Lebensumständen und ihrer Belastbarkeit. Aus dem Verkehr gezogen wurde dieses Modell im aufgeklärten Europa vor dreihundert Jahren, als Montesquieu - Kirchhof sollte ihn kennen - zwingend nachwies, daß Demokratie nur mit einer gerechten Direkt-Besteuerung der Bürger zu vereinbaren sei - im Absolutismus sei das weder möglich noch nötig. Ein von dynastischen Exzessen befreiter Staat brauche für seine Daueraufgaben eine verläßliche Dauerfinanzierung; er legitimiere sie durch seinen Service für den Bürger und dessen parlamentarische Teilhabe bei der Bewilligung der Mittel. Englands erzkonservativer Reformer, Sir Robert Peel, hat die direkte Besteuerung auf der Grundlage leicht progressiver Tarife um die Mitte des 19. Jahrhunderts definitiv als Rückgrat der Staatsfinanzen durchgesetzt, nachdem "liberale" Vorgänger-Regierungen sie immer wieder abgeschafft hatten.

Ihr Siegeszug durch die westliche Welt hat dann den demokratischen Staat zu einem sozialen gemacht. Heute ist sie sein wichtigstes Instrument, um seine beiden Hauptziele zu verwirklichen: Gerechtigkeit und Stabilisierung der Volkswirtschaft. Wie aktuell das noch oder schon wieder ist, zeigt ein Rekurs auf den zusammengebrochenen Kommunismus. Weil dieser die bürgerliche Gesellschaft ablehnte, ersetzte er die direkte Besteuerung durch die indirekte über Preise und Zuteilungen. Statt des geplanten Paradieses der Arbeiter entstand ein absolutistisches und diktatorisches Ancien Régime. Auch daran sollte Merkel denken, wenn sie die Mehrwertsteuern generell erhöhen will.

Konkret zu besichtigen sind die Ergebnisse der Kirchhofschen Wunderwaffe überall da in der Welt, wo es noch mit der Demokratie, der Schreib- und Lesekunst der Bevölkerung, der Effizienz der staatlichen Finanzverwaltung und der Steuermoral der Reichen hapert: in armen Dritte-Welt-Ländern und den meisten Nachfolgestaaten der früheren Sowjet-Union, zum Beispiel Rußland, Georgien, Ukraine, Baltikum und anderen. Dort hätte Kirchhof Gelegenheit, die Wirkungen seiner Visionen zu studieren und sich Gedanken über das Ausbleiben der von ihm für Deutschland erhofften Wunder zu machen.

Jenseits ihrer demokratischen Defizite: Deutschland kann sich "Reformen" à la Herzog und Kirchhof einfach nicht leisten. Die mit ihnen verbundenen Steuerausfälle wären gewaltig. Nach neueren Berechnungen aus Kiel (IfW) und Berlin (DIW) würden aus Kirchhofs Vorschlägen Mindereinnahmen um die fünfzig Milliarden Euro per anno entstehen. Und die Gegenrechnung des Meisters: Diese Summen kämen über seine Streichliste von über 400 aufzuhebenden Steuervergünstigungen und -rabatten wieder herein. Nur ist sie ohne den Wirt aufgemacht. Sie berücksichtigt weder die Widerstände gegen diese Streichungen noch den Zeitablauf: Erst wenn die Gegenfinanzierung steht, weiß man, um wieviel sich Steuersätze seriös und aufkommensneutral senken lassen. Merkel riskiert mit diesen Plänen nicht nur den handfestesten Hauskrach mit den europäischen Freunden, sondern Bußgeld-Bescheide der Brüsseler Finanzpolizei in Milliardenhöhe. Was nicht einmal Rot-Grün geschafft hat, könnte Schwarz-Gelb spielend gelingen: der Staatsbankrott.

Merkels Beratertruppe aus Politikern, Juristen und einem ehemaligen Konzernlenker fehlt jeder volkswirtschaftliche Sachverstand. Er würde jeder künftigen Bundesregierung gleich welcher Farbkombination ein Drei-Punkte-Programm verordnen:

- Stärkung des Mittelstandes, des sträflich vernachlässigten Kraftreservoirs der deutschen Volkswirtschaft. Er braucht eine Verbreiterung seiner Eigenkapitalbasis durch steuerliche und kapitalmarktpolitische Maßnahmen wie die Absetzungen für das hier beschäftigte und ausgebildete Humanka-pital, verbesserte Zutrittsbedingungen zu Börse, Beteiligungsmärkten und Förderkrediten.

- Sanierung der Städte- und Gemeindefinanzen durch Schaffung einer eigenen Steuerbasis. Nur so lassen sich der anhaltende Verfall der deutschen Infrastruktur und der Abwärtstrend in den öffentlichen Investitionen stoppen und ins Gegenteil verkehren.

- Eine Investitions- und Innovationsoffensive für den deutschen Osten. Nur so läßt sich der Flucht des jungen Human- und privaten Sparkapitals aus den neuen Bundesländern wirksam begegnen: ihrer wirtschaftlichen Verödung sowie menschlichen Entleerung und Überalterung.

Und das Geld für diese Programme? Es ist in der immer noch reichen deutschen Gesellschaft vorhanden, wie die Zahlen der jeder Schönfärberei unverdächtigen Deutschen Bundesbank ausweisen. Allein in den letzten vier Jahren hat die deutsche Bevölkerung eine halbe Billion Euro mehr gespart, als die deutsche Wirtschaft investierte (Junibericht 2005). Dieses ungenutzte Investitionskapital in produktives, werte- und beschäftigungschaffendes umzuwandeln - das ist die Aufgabe, die der nächsten Bundesregierung harrt. Sie würde damit das Stimmungsbarometer in Wirtschaft und Bevölkerung wieder auf Schönwetter klettern lassen und alle Mißstimmung zerstreuen. Eine wieder wachsende deutsche Volkswirtschaft könnte ihre Reformen ohne Lohnverzicht, Sozialabbau und explodierende Staatsschulden finanzieren. Dem deutschen Patienten kann geholfen werden. Er braucht nur die richtige Kur.

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel war bis 1967 Direktor der Kreditanstalt für Wiederaufbau, danach leitete er als Ministerialdirektor die Abteilung. "Geld und Kredit" im Wirtschafts- und Finanzministerium unter Karl Schiller (SPD). Später wurde er Präsident der Hessischen Landesbank. Seit 1967 lehrt er Währungs- und Entwicklungspolitik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

 

Grafik: Alberto Savino, Das verlorene Schiff, 1928: "Eine wieder wachsende deutsche Volkswirtschaft könnte ihre Reformen ohne Lohnverzicht, Sozialabbau und explodierende Staatsschulden finanzieren. Doch dazu müßte der nächste Bundeskanzler eine Mischung aus Ludwig Erhard und Karl Schiller sein."


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